Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität
Fiktionen sind unverzichtbar, um mit Unsicherheit umzugehen und die Komplexität der Realität zu reduzieren. Sie strukturieren Unsicherheit und schaffen so Orientierung. Wir greifen eine Beschreibung von Elena Esposito auf, in der sie fiktionale Literatur und die Wahrscheinlichkeitstheorie einander gegenüberstellt.
Die Fiktion wir mit der Verantwortung verknüpft indem sie als eine Fiktion der wahrscheinlichen Realität konstruiert wird.
Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität
Eine Fiktion schafft eine neue Ebene der Realität. Sie verdoppelt Realität durch eine Konstruktion, indem sie die Realität durch eine Beschreibung spiegelt. Die Beschreibung, die wir uns hier ansehen, geschieht in der fiktionalen Literatur oder durch Wahrscheinlichkeitstheorie. Literatur und Wahrscheinlichkeitstheorie haben damit eine ähnliche Funktion.
Die fiktionale Abbildung der Welt durch die Literatur
Romane zum Beispiel, erschaffen plausible Welten, die zwar nicht real sind, aber dennoch eine innere Kohärenz besitzen. Literatur dient mit Hilfe von Reduktion und Kohärenz als Spiegel der gesellschaftlichen Kontingenz[1]. So ermöglicht sie es, die Welt von außen zu betrachten, alternative Deutungen zu erkunden und aus der Distanz, alternative Perspektiven zu entwickeln und Unsicherheiten zu bewältigen.
In einem Roman können zum Beispiel alltägliche Sorgen und existenzielle Ängste vieler Menschen in einer Szene reflektiert werden: die Unübersichtlichkeit von Entscheidungen, die Routinebeziehungen und die erdrückende Monotonie des Alltags [2]. Die Szene konzentriert sich dabei auf eine einzelne Figur, einen einzigen Moment und eine konkrete Umgebung. Die Reduktion erlaubt es dem Leser, die Komplexität der Realität in einer greifbaren, symbolischen Form zu erleben. Der Roman kann durch die Reduktion der Komplexität der Realität in einer spezifischen Szene klare Botschaften vermitteln. Klare Botschaften bieten dem Leser Denkanstöße, die er auf sein eigenes Leben anwenden kann.
Erläuterungen
[1] Esposito S. 19: „Es scheint ganz so, als definiere sich Realität in der modernen Gesellschaft nicht nur über die Negation des Irrealen, sondern über die Spiegelung und den Austausch verschiedener Realitäten, die nicht eindeutig, aber auch nicht zufällig sind. Durch die Offenlegung ihres fiktiven Charakters »funktioniert« die fiction genau dann, wenn sie ihre »Andersartigkeit« zwar in Bezug zur realen Realität, aber auf der Grundlage präziser Bedingungen entwirft: Der Roman muss realistisch sein, d. h. er muss eine Welt entwerfen, die der direkt erfahrenen Welt an Kohärenz entspricht oder diese gar übertrifft.“
[2] Das ganze Beispiel, inklusiver eines beispielhaften Romantextes, befindet sich in der Recherche im Anhang Beispiel der möglichen Vereinfachungen im Roman.
Die Fiktion in der Wahrscheinlichkeitstheorie
Wahrscheinlichkeit kann man auf dieselbe Weise als eine methodische Fiktion betrachten. Sie beseitigt die Unsicherheit nicht, sondern gibt ihr eine Struktur. Ihre mathematische Basis verspricht Strenge, Gewissheit und Objektivität – die klassischen Versprechen der Rationalität. Wahrscheinlichkeiten aber sind gleichzeitig Konstrukte, die auf subjektiven und objektiven Annahmen basieren. Wahrscheinlichkeitstheorie bietet als ein Werkzeug wie der Roman kohärente Modelle zur Auseinandersetzung mit der Realität. Sie sind wertvoll, weil sie Orientierung bieten, nicht weil sie die Realität vollständig abbilden.
Statistische Modelle beispielsweise, die das zukünftige Wirtschaftswachstum eines Landes in Form des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) vorhersagen, strukturieren Unsicherheit, indem sie eine plausible Entwicklung der Wirtschaft in Form von Prozentzahlen präsentieren[1]. Diese Prognosen basieren auf historischen Daten, Annahmen über zukünftige Entwicklungen und komplizierten Berechnungen. Dennoch bleiben sie Konstrukte mit begrenzter Validität. Sie schaffen zwar Orientierung, geben der Unsicherheit einen Rahmen und fokussieren auf Handlungsoptionen. Ihre Annahmen können aber nicht vollständig begründet werden. Die Stabilität historischer Muster ist fraglich. Daten sind niemals vollständig und Akteure verhalten sich nicht rational in dem Sinne, dass ein Beobachter verlässliche Vorhersagen über ihr Verhalten machen könnte.
Erläuterungen
[1] Das ganze Beispiel befindet sich in der Recherche im Anhang Beispiel für eine Statistik.
Die Notwendigkeit von Fiktionen
In diesem Beispiel gibt die BIP-Prognose der Unsicherheit eine Struktur. Die Struktur entsteht aus der Verdichtung der unüberschaubaren Komplexität wirtschaftlicher Entwicklungen in überschaubare Zahlen und Wahrscheinlichkeiten. Gleichzeitig bleibt diese Struktur ein Konstrukt, das auf Annahmen basiert, die nicht vollständig begründet werden. Der Wert der Statistik liegt also nicht darin, absolute Gewissheiten zu schaffen. Der Wert liegt darin, die Unsicherheit auf eine Weise zu gestalten, die Handlungen und Entscheidungen ermöglicht. Die Statistik bringt wie der Roman durch seine Vereinfachungen Orientierung in die Komplexität der menschlichen Erfahrung.
Fiktionen sind also unverzichtbar, um mit Unsicherheit umzugehen und die Komplexität der Realität zu reduzieren. Sie sind uns nicht immer bewusst, tatsächlich treffen wir sie aber überall. Interessant ist, dass fiktive Erzählungen dies auf die gleiche Art und Weise tun, wie mathematische Modelle. Die Modelle erscheinen uns aber in der Regel sperriger und weniger leicht zu verstehen.
Die Narrative Form von Fiktionen
Wir kommen damit auf die Einführung von narrativen Strukturen als Lösung des Entscheidungsparadoxes zurück: Sie helfen vor allem, Konsens zu schaffen und ermöglichen es aufgrund sozial geteilter Plausibilität, Entscheidungen zu treffen. Diese Kompetenz ist besonders nützlich, wenn gemeinsame Standpunkte klein und die Unsicherheit groß ist. Die Wahrscheinlichkeitstheorie ist dabei eine andere und spezielle Technik zur „Defuturisierung“: Sie projiziert die Ungewissheit der Zukunft in das Wahrscheinliche und schafft so ihren Rahmen zur Orientierung. [1]
Die von Elena Esposito beschriebene Fiktion teilt damit die Kritik der ökonomischen Modelle. Dass wir sie als konstruiert erkennen, erlaubt uns jetzt aber, ihre Eigenschaften genauer zu benennen:
Ihre Reflexivität
Die Fiktion als Beschreibung von Beobachtung ist in ihrer Funktion reflexiv, d.h. dass Beobachter Teil der beobachteten Realität sind. Das schließt die Möglichkeit einer rein objektiven Betrachtung aus[2]. Statistik und Wahrscheinlichkeit sind keine objektiven Abbilder der Welt, sondern soziale Konstruktionen, die durch ihre Nutzbarkeit und Nachvollziehbarkeit überzeugen.
Ihre Rationalität
Rationalität spielt bei der Erstellung von Statistiken und Vorhersagen eine zentrale Rolle. Sie dient als methodisches Prinzip dazu, Unsicherheit nachvollziehbar zu strukturieren und Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. So kommt sie der Verpflichtung des wirtschaftenden Akteurs als freies und verantwortliches Subjekt entgegen. Statistische Verfahren folgen rationalen Methoden: Sie nutzen Daten, mathematische Modelle und logische Schlüsse. In dieser Struktur reduzieren sie die Komplexität der Welt auf methodisch kohärente, handhabbare und rationale Modelle [3].
Ihre Relativität
Allerdings ist die Rationalität der Modelle nie absolut, sondern basiert auf vereinfachten Annahmen über die Wirklichkeit. Sie sind unweigerliche eine Vereinfachung der unendlich vielen Variablen, die den Markt beeinflussen. Statistiken erscheinen als objektiv, doch ihre Rationalität ist eine Konstruktion: Die Auswahl der Daten, die Wahl des Modells und die Interpretation der Ergebnisse sind immer subjektive Akte. Diese sind von Werten, Annahmen und dem sozialen Kontext geprägt.
Erläuterungen
[1] Esposito 2007, S. 70: „Wahrscheinlichkeit und Statistik stellen also keine realen Tatsachen dar, sie werden aber real, weil sie den Beobachtern einen Spiegel anbieten, mit dem sie die Zukunft und die anderen Beobachter beobachten können.“
[2] Esposito 2007, S. 110: Elena Esposito verweist auf die Theorie der Nicht-Theorie, wie sie von George Soros in seinem Buch „Die Alchemie der Finanzen“ vorgestellt wird. Soros beschreibt, wie Teilnehmern am Finanzmarkt Entscheidungen aufgrund ihrer subjektiven Interpretation der von ihnen beobachteten Realität treffen. Diese Entscheidungen beeinflussen wiederum die Marktbedingungen selbst, was zu Preisänderungen, Trends oder Krisen führen kann. Dadurch entsteht ein Feedback-Loop, in dem Wahrnehmung und Realität sich gegenseitig verstärken oder verzerren können.
Weitere Details befinden sich in der Recherche im Anhang Georg Soros: Theorie der Nicht-Theorie. Ich würde diese Art der Reflexivität als eine objektive Reflexivität bezeichnen, weil die Reflexivität sich als ein externer Mechanismus beschreiben lässt. Davon unterscheide ich eine subjektive Reflexivität, die auf der Wiedereinführung der Unterscheidung in die Unterscheidung beruht. Sie fragt sich, ob die Fiktion, so wie sie Beobachtung beschreibt, richtig gewählt ist. In dem von Soros dargestellten Beispiel erkennt sich der Beobachter als Teil der Realität und des von Soros beschriebenen reflexiven Mechanismus.
[3] Es gibt noch eine Reihe von Aspekten, die hier erwähnenswert erscheinen. So entbinden Statistiken den Unternehmer z.B. nicht von seiner Verantwortung, auch wenn sie Orientierung bieten. Er bleibt verantwortlich, welche Modelle er wählt, wie er mit den Unsicherheiten von Prognosen umgeht und welche Handlungen er letztlich umsetzt. Außerdem, wie Sartre betont, ist jede Entscheidung ein Akt der Selbsterschaffung. Wenn ein Unternehmer auf Basis einer Statistik handelt, macht er diese zu einem Teil seines Entwurfs. Weiter Hinweise finden sich in der Recherche im Anhang Rationalität bei Vorhersagen.
Eine Fiktion die sich der wahrscheinlichen Realität verpflichtet
Wir schließen mit diesen Feststellungen nahtlos an die Kritik der neoklassischen Ökonomie und ihrer Modelle an, ohne sie zu widerlegen. Im Gegenteil, wir finden die Kritik hier bestätigt. Wir brauchen deshalb noch ein weiteres Element, um die Fiktion der Modelle als eine brauchbare Grundlage für Entscheidungen zu rechtfertigen.
Der entscheidende Punkt ist, dass wir es als Grundlage von Entscheidungen nicht mit einer beliebigen Fiktion zu tun haben. Wir benötigen stattdessen eine Fiktion, die der Verantwortung des Akteurs gerecht wird. Die Fiktion vereinfacht notwendig die Sicht auf die Realität. Sie sollte sie aber so abbilden, dass wir die Auswirkungen von Entscheidungen wahrscheinlich richtig eingeschäten können. Elena Esposito spricht in diesem Zusammenhang von der Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Damit bringt sie meiner Ansicht nach genau die Verpflichtung zur Verantwortung aus der existenziellen Freiheit zum Ausdruck. [1]
Erläuterungen
[1] Baecker 1999, S. 77: Dirk Baecker vermutet, dass die spezifische Verknüpfung von Rationalität und Kultur eine europäische Errungenschaft ist. Sie könnte auf Immanuel Kant zurückgehen, der Vernunft als Mittel beschreibt, um den Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und ihm so die Freiheit verspricht, autonom und selbstbestimmt zu handeln. Andere Ansätze zur Freiheit gehen hier anders vor, siehe Recherche im Anhang Das Europäische Vernunftmodell im Vergleich mit anderen Ansätzen der Freiheit.
Fiktionen sind gleichzeitig ein riskantes Unterfangen
Die Konstruktion der Fiktion und damit ihre Funktion kommt, wie wir also gesehen haben, nicht ganz ohne Risiko [1]. Die unreflektierte Nutzung mathematischer Abbilder der Welt, verleitet dazu, Zahlen für realer zu halten, als sie sind. Es ist deshalb notwendig, sie angemessen einzuordnen. Wir schauen im nächsten Kapitel noch einmal aus einem anderen Blickwinkel auf die Beschränkungen von Zahlen und Modellen. Dort verbinden unsere Beobachtungen mit der Forderungen nach einer aktualisierten Auffassung von Datenkompetenz. Neoklassische ökonomische Modelle können wir erst dann rehabilitieren und gezielt einsetzen, wenn wir die Gefahren kennen und ihnen begegnen können.
Erläuterungen
[1] So auch bei Esposito 2007, S. 63: „Dabei sollte man jedoch berücksichtigen, dass die Prognose an sich keineswegs Risiken vorbeugt, sondern dass sie selbst zur Quelle spezifischer Risiken wird. In den Begriffen Bayes’ könnte man das prognostizierte Szenario selbst als eine Möglichkeit bezeichnen, der ein zweites Risiko entspricht, dem man wiederum eine Wahrscheinlichkeit zuordnen müsste – aber so könnte man offensichtlich endlos weitermachen, ohne zu irgendeinem Ergebnis zu kommen.“
