Entscheidungen unter Unsicherheit
Entscheidungen müssen getroffen werden, auch wenn die Zukunft ungewiss ist. Aus diesem Paradox hilft eine Konstruktion: Narrative Strukturen können unsichere Zusammenhänge als plausibel darstellen. Die Unsicherheit der Vorhersage wird mit Hilfe der Erzählung durch ihre Anschlussfähigkeit ersetzt.
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Entscheidungen unter Unsicherheit
Die gegenwärtige Zukunft ist nicht die zukünftige Gegenwart
Was heißt es, wenn wir Entscheidungen unter Unsicherheit treffen? Die Bedingungen sind schwierig. Einerseits beziehen sich Entscheidungen zwangsläufig direkt oder indirekt auf die Zukunft. Andererseits ist die Zukunft nicht nur ungewiss, sondern auch in ihren Kausalzusammenhängen weitgehend spekulativ.
Zentral ist hierbei der Gedanke, dass sich die gegenwärtige Zukunft von der zukünftigen Gegenwart unterscheidet. Mit der gegenwärtigen Zukunft bezeichnen wir die Vorstellungen, die wir uns heute über die Zukunft machen. Wir machen das durch Projektionen, Pläne und Hypothesen. Im Gegensatz dazu bezeichnet die zukünftige Gegenwart die tatsächliche Realität, die in der Zukunft existieren wird. Zwischen diesen beiden Konzepten besteht, insbesondere in der Wirtschaft, nur ein schwacher kausaler Zusammenhang. Entscheidungen, die sich notgedrungen auf die zukünftige Gegenwart beziehen, werden deshalb auf Grundlage von Konstruktionen getroffen. Sie sind oft mehr Spekulation als Realität.
Wir sind zum Entscheiden gezwungen
Handeln, und genauso unternehmerisches Handeln, ist aber zum Entscheiden gezwungen. Ein Akteur kann nicht nicht entscheiden, weil auch das eine Entscheidung ist.
Nehmen wir wieder ein Beispiel aus dem politischen Bereich. Wir wollen für keine Seite Partei ergreifen. Aber man kann sagen, dass man sich entscheiden könnte, Verhalten zu verändern, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Man könnte beispielsweise etwas unterlassen, das zum Ausstoß von klimawirksamen Gasen wie CO2 oder Methan führt. Trifft man diese Entscheidung nicht, dann entscheidet man sich implizit auch. Man nimmt zumindest die Möglichkeit in Kauf zu nehmen, dass der Klimawandel weiter voranschreitet. In der Folge könnte es vermehrt zu Schäden durch Umweltereignisse kommen. Handeln und Unterlassen sind also nur zwei Seiten einer Medaille. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung.
Entscheidungen erfordern Begründungen, die man nicht geben kann
Entscheidungen erfordern außerdem eine Begründung, die ihren Sinn in der Zukunft findet. Wir kommen darauf noch einmal zurück. Für den Moment können wir uns auf unsere Erfahrung berufen. Sowohl uns selbst gegenüber versuchen wir, eine Begründung für unsere Handlungen zu finden, als auch gegenüber anderen, die unsere Entscheidung betrifft, oder die vielleicht mitwirken sollen.
Das Problem ist aber, weder eine Entscheidung noch das Unterlassen einer Entscheidung können wir vollständig begründen. Sie beziehen sich auf die zukünftige Gegenwart, deren Eintrittspunkt unsicher ist. In komplexen Systemen wie der Wirtschaft ist die Unsicherheit sogar fundamental [1]. Das Wissen, das Entscheidungen leitet, ist interaktiv bestätigbar, aber nicht zwingend wahr. Entscheidungen werden dadurch paradox, Risiko wird zum inhärenten Bestandteil des Entscheidungsprozesses.
Erläuterungen
[1] Priddat 2016, S. 43: „Die Akteure haben gegenüber jeder Prognose die Freiheit, sich anders zu entscheiden, als die Prognose annimmt, wie sie sich zu entscheiden hätten. Für jede Prognose ist die kreative Abweichung eine Überraschung, die sie nicht ‚einrechnen‘ kann.“ Und an dieser Stelle K.H. Brodbeck zitierend: „Die Wiederholung desselben Handlungsprogramms in differenten Situationen bleibt eine kreative Entscheidung, die nicht rational rekonstruiert werden kann“, sowie in der Fußnote: Jens Beckert ergänzt: „Entscheidungshandeln in wirtschaftlichen Kontexten findet unter Bedingungen fundamentaler Ungewissheit statt. …“
Die Fiktion der Kausalität
Birger P. Priddat beschreibt in seinem Aufsatz „Wie wahrscheinlich ist das Wahrscheinliche“, dass die Lösung des Entscheidungsparadoxons in der Einführung narrativer Strukturen liegt. Geschichten und Erzählungen schaffen eine Form der „Fiktion der Kausalität“, die es Akteuren ermöglicht, unsichere Zusammenhänge als plausibel wahrzunehmen[1]. Eine Fiktion ist dabei keine bloße Erfindung oder Unwahrheit, sondern ein gedankliches Konstrukt[2]. Es basiert auf der Annahme, dass das Konstrukt möglich ist, ohne zwangsläufig real zu sein. Als Werkzeug dienen Fiktionen dazu, mit Unsicherheit und Komplexität umzugehen. Sie tun das, indem sie mögliche Zukünfte oder Situationen ordnen und so Orientierung schaffen.
Fiktionen in der Form von Erzählungen reduzieren schon durch ihre lineare Struktur und die Notwendigkeit, eine Auswahl des Erzählten zu treffen, die Komplexität der Realität[3]. Sie bieten ein Gerüst, um Erfahrungen, Erwartungen und mögliche Entwicklungen zu ordnen. Dabei übernehmen sie zentrale Funktionen. Sie verleihen dem Unbekannten eine erkennbare Struktur und stiften damit Sinn. Sie heben relevante Aspekte hervor und blenden Irrelevantes aus. Und Geschichten formen individuelle und kollektive Identitäten und erzeugen ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Erläuterungen
[1] Priddat 2016, S. 33: „Wir benötigen diese – letztlich narrative – Plausibilität, weil wir nur dann, in dieser plausibilisierten Quasigewissheit, entscheiden können. […] Die Plausibilität substituiert die Zufälligkeit durch hinreichende Gründe, die uns überzeugen, so und nicht anders zu entscheiden.“
[2] Die Definition sollte im Sinne von Elena Esposito sein: Esposito 2007, S, 13: „Die fiction, so scheint es, wird als fiktive Konstruktion dann akzeptabel, wenn sie eine Welt vorstellt, die so plausibel ist, dass sie wahr sein könnte.“ Siehe auch Recherche im Anhang Was ist eine Fiktion im hier verwendeten Sinn?.
[3] Siehe z.B. Koschorke 2012, S. 28: „. Zum einen liegt eine große Energieersparnis darin, dass nicht immer auch alle mitlaufenden Vorstellungskomponenten ins Licht gerückt werden – was in letzter Konsequenz zu einem sprachlichen Infarkt führen würde. Zum anderen jedoch werden Aufmerksamkeit, Anteilnahme und affektive Besetzung durch den selektiven Charakter dessen, was Einlass in sprachliche Darstellung findet, gebündelt und intensiviert.“
Narrativ imaginierte Zukunft
In der Wirtschaft nehmen diese Erzählungen die Form fiktionaler Erwartungen an, die Jens Beckert als „imaginierte Zukunft“ beschreibt [1]. Sie geben Orientierung und ermöglichen Akteuren, Entscheidungen zu treffen, obwohl sie in einem Raum der Unsicherheit agieren. Entscheidungen basieren dann auf Vorstellungen zukünftiger Zustände und kausaler Mechanismen, die dorthin führen.
Die Vorstellungen sind dabei nicht unbedingt an empirische Realität gebunden und ermöglichen kreative Handlungsansätze. Auf diese Weise dienen Prognosen nicht der exakten Vorhersage. Stattdessen dienen sie als narrativer Entscheidungsraum, in dem plausible Geschichten die Unsicherheiten überbrücken. Menschen benötigen diese narrative Plausibilität, um Entscheidungen zu treffen. Sie ersetzt Zufälligkeit durch hinreichende Gründe und vermittelt eine Art Versicherung, dass Handlungen auch ohne eine exakte Vorhersage anschlussfähig bleiben [2].
[1] Siehe Beckert 2018
[2] Siehe Priddat 2016, S. 33: „In der Plausibilität haben wir eine Art Versicherung, richtig zu handeln, ohne genau zu wissen, ob oder wie. Die Versicherung ist hier die der Anschlussfähigkeit der Handlung, nicht aber die, das beste Ergebnis prognostiziert zu haben.“
Die Unsicherheit der Vorhersage wird durch Anschlussfähigkeit ersetzt
Der zentrale Gedanke ist hier die Bewältigung von Unsicherheit durch die Ersetzung von Vorhersagen durch Anschlussfähigkeit. Anstatt präzise Vorhersagen über die zukünftige Gegenwart zu machen, wird praktisch die gemeinsam geteilte, gegenwärtige Zukunft als Grundlage für Entscheidungen verwendet. Es entsteht eine probabilistische und soziale Plausibilität, die Entscheidungsträgern das Vertrauen gibt, zu handeln. Wirtschaftliche Entscheidungen entfalten damit eine Anschlusskultur, die das Zusammenspiel von Handlungen und Reaktionen innerhalb eines sozialen Systems ermöglicht. Prognosen erzeugen gemeinsame mentale Modelle, die Orientierung bieten und kohärentes Verhalten erleichtern.
Wir sehen aber auch, dass die Fiktion der Kausalität nicht unser Problem der möglicherweise unzulässigen Reduktion von Komplexität löst. Auch die Erzählung vereinfacht. Sie ist aber durch ihre Fähigkeit, Komplexität aufzunehmen[1], in der Lage, die Paradoxie unsichtbar zu machen.
Erläuterungen
[1] Dazu Koschorke 2012, S. 34: „Dafür gibt es diverse Verfahren: verallgemeinernde Redensarten, Aufruf von Stereotypen und assoziationsträchtigen Schlagworten, Verwendung von dehnbaren Generalklauseln, Abkürzungen und Auslassungen, aber eben auch Vervollständigungen hin zu einem sozusagen gewohnheitsrechtlich prästabilierten Sinn. Geleistet wird damit zweierlei, sowohl die Abwehr von (ungestalteter) Turbulenz als auch der Abbau von (gestalteter) Komplexität. All diese Verfahrensweisen lassen sich effizient in einem von den verschiedensten Sprechern aufrufbaren Narrativen zusammenführen, dessen Grobstruktur Festigkeit bietet, während es zugleich eine große Varietät von Einzelfällen unter sich subsumiert.“
Wie kommt jetzt die Rationalität wieder ins Spiel?
Zu beleuchten bleibt jetzt aber noch, welche Rolle Rationalität bei Entscheidungen spielt und welche Formen sie annehmen könnte. Wenn Narrative die Lösung sind, brauchen wir dann noch Rationalität? Und warum sollten wir uns mit den komplizierten Modellen der Ökonomie befassen?
Um diese Fragen zu beantworten, schauen wir noch einmal auf das Entscheidungsparadox. Wir beleuchten seinen Kontext als eine allgemeine Notlage und übertragen diese Überlegungen auf das Entscheidungsproblem in der Wirtschaft.
In einem zweiten Schritt beantworten wir uns dann die Frage, warum wir uns auf die Fiktion als Werkzeug einlassen können. Das Kapitel zur „Fiktion der wahrscheinlichen Realität“ aus dem gleichnamige Buch von Elena Esposito beantwortet diese Frage. Aber zunächst zur Notlage, in der sich Entscheidende befinden.
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