Datenkompetenz ist mehr als Statistik und Software-Tools
Daten und Modelle sind ein soziales Konstrukt. Sie zeigen die Welt, wie wir sie beobachten, nicht wie sie tatsächlich ist oder sein könnte. Sie strukturieren Unsicherheit, beseitigen sie aber nicht.
Es ist eine Schlüsselkompetenz, die Modelle als Konstruktion in ihrem Kontext zu verstehen. Narrative können helfen, sie entsprechend einzuordnen.
Fiktion der Realität
Verteidigung von Rationalität und Modellierung
Datenkompetenz
Es gibt bekannten Gefahren, denen wir als Menschen begegnen, wenn wir Entscheidungen auf Zahlen, Daten und mathematische Modelle stützen. Da sind zum Beispiel falsche Interpretationen von Daten. Und es kommt vor, dass wir Modellen falsch anwenden. Diesen Gefahren lässt sich gut durch Aufklärung und Ausbildung begegnen. Die richtige Verwendung von Zahlen ist hier eher eine technische Frage.
Daten zeigen die Welt, wie wir sie beobachten, aber nicht wie sie ist oder sein könnte
An dieser Stelle sind mir aber diejenigen Beschränkungen besonders wichtig, denen die Daten selbst unterliegen. Beschränkungen, die selbst dann auftreten, wenn wir Zahlen richtig technisch verarbeiteen und lesen. Zahlen ermöglichen nämlich zwar einfache Vergleiche, erzählen aber nicht immer die ganze Geschichte. Sie spiegeln eine Welt wider, wie wir sie beobachten, nicht aber wie sie tatsächlich ist, oder wie sie sein könnte.
Im Jahr 2020 zum Beispiel standen Regierungen weltweit vor der Herausforderung, Entscheidungen über Schulschließungen zu treffen. Damit wollten sie die Ausbreitung des Coronavirus kontrollieren [1]. Eine zentrale Grundlage für solche Entscheidungen waren die 7-Tage-Inzidenzen (Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen). Viele Regierungen setzten fest, dass Schulen schließen, wenn die 7-Tage-Inzidenz in einer Region einen Schwellenwert überschreitet. Die Zahlen ermöglichten scheinbar klare Vergleiche zwischen Regionen und eine einfache Begründung von Maßnahmen. Die ausschließliche Orientierung an den Inzidenzen führte in einigen Fällen zu Entscheidungen, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten oder möglichen besseren Alternativen entsprachen. Im Ergebnis waren diese Entscheidungen den tatsächlichen Risiken nicht angemessen. So kam es z.B. zu Schulschließungen auch in Regionen mit geringer Kinder-Inzidenz. Das hat eventuell langfristige Schäden verursacht, die nicht in die Bewertung einflossen sind. Alternative, gezielte Maßnahmen, die die Schulen hätten offenhalten können, wurden verdrängt.
Erläuterungen
[1] Das ganze Beispiel befindet sich in der Recherche im Anhang Beispiel für schlechte Entscheidungen, die sich auf Daten berufen.
Die reflektierte Interpretation von Daten
Die ausschließliche Orientierung an wenigen Zahlen, Daten und Modellen kann also zu schlechten Ergebnissen führen. Die Modelle erfassen die Komplexität der Realität nicht vollständig. Sie berücksichtigen die Folgen und Kontexte der Entscheidung nicht. Oder sie bieten keine Perspektiven auf mögliche Alternativen. Entscheidungen werden zweifelhaft, wenn Menschen in ihren Entscheidungen dann den Empfehlungen von Maschinen folgen. Die Ursache liegt darin, dass sie die zugrundeliegenden Daten, ihre Annahmen und ihre Verarbeitung nicht verstehen. Gute Entscheidungen dagegen erfordern immer eine reflektierte Interpretation der Daten. Sie bezieht auch qualitative Aspekte, mögliche Nebenfolgen und alternative Strategien ein.
Wir brauchen deshalb eine Datenkompetenz, die sich die Natur von mathematischen Modellen und Daten als soziales Konstrukt vergegenwärtigt. Dabei geht es dann nicht nur um die Vermittlung technischer Fertigkeiten. Es geht vor allem auch um die Fähigkeit, Daten kritisch zu hinterfragen.
Narrative Ansätze zur Einbettung von Modellen in ihren Kontext
Datenkompetenz beginnt mit der Erkenntnis, dass Zahlen vereinfachte und fiktive Abbilder der Realität sind. Wir haben das oben sehr detailliert dargestellt und in der Kritik der Modelle betont. Genau wie fiktionale Erzählungen komplexe Zusammenhänge verdeutlichen, können an dieser Stelle aber narrative Ansätze auch helfen, Daten besser zu interpretieren. Daten erzählen Geschichten, ihnen liegen Annahmen zugrunde und sie können in unterschiedliche Kontexte eingebettet werden. Diese Erzählung der Erzählung sollte plausibel sein und die Ableitung und Herstellung der Daten einschließen.
Betrachten wir die Einbettung einer Statistik, wie zum Beispiel der Prognose des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in eine Erzählung. Sie kann dazu beitragen, die Annahmen, Unsicherheiten und Interpretationsspielräume der Daten transparent und besser verständlich zu machen. Das hilft Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit bei ihrer Anwendung. Die Schilderung des Kontexts kann die Relevanz der Daten darstellen. Die Erläuterung der Methoden und Annahmen hinter der Statistik dient der Offenlegung der mit ihr verbundenen Unsicherheiten. Im Kern der Erzählung stehen die Bedeutung und die potenziellen Auswirkungen des Berichteten. Die Erzählung schließt mit den Grenzen der Statistik und wo die Prognose möglicherweise nicht die ganz Wirklichkeit erzählt. Dazu gehört eine Diskussion, wie Leser die Prognose in Entscheidungen einbetten können und wo es wichtig ist, über die Zahlen hinauszudenken [1].
Erläuterungen
[1] Eine umfangreichere Darstellung der Einbettung des Beispiels in eine Erzählung befindet sich in der Recherche im Anhang Beispiel für eine narrative Einbettung von Zahlen.
Unsicherheiten akzeptieren
Wahrscheinlichkeiten und Datenmodelle sind Werkzeuge, um Unsicherheit zu strukturieren, nicht zu beseitigen. Datenkompetenz bedeutet deshalb auch, die inhärente Unsicherheit von Vorhersagen zu akzeptieren und mit ihr umzugehen, ohne Entscheidungsfähigkeit zu verlieren. Die Kombination aus analytischem Denken, systemtheoretischem Verständnis und sozialer Reflexion kann helfen, Daten ganzheitlich zu begreifen. Daten und Algorithmen sind keine objektiven Wahrheiten, sondern Konstrukte mit spezifischen Perspektiven und Zielen. Diese metakognitive Fähigkeit ist essenziell, um Daten sinnvoll und verantwortungsvoll zu nutzen.
Um am Beispiel zu bleiben: „Daten erzählen Geschichten, und es liegt an uns, diese Geschichten zu interpretieren. Eine BIP-Prognose ist nicht nur eine Zahl – sie ist ein Werkzeug, um die Unsicherheit der Zukunft zu strukturieren. Doch nur wenn wir die Annahmen und Kontexte dieser Zahl verstehen, können wir ihre Botschaft sinnvoll nutzen. Daten ohne Narrative sind wie Karten ohne Legende – sie weisen den Weg, aber wir wissen nicht, wohin.“
Datenkompetenz als Brücke zwischen Zahlen und Narrativen
Datenkompetenz bedeutet deshalb mehr als das Erlernen von Statistik und Software-Tools. Sie ist eine Schlüsselkompetenz der Moderne, die dazu befähigt, mit Komplexität umzugehen, fundierte Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen[1]. Durch einen reflektierten Umgang mit Daten schaffen wir eine Brücke zwischen Zahlen und Narrativen, die heute unverzichtbar ist.
Fassen wir zusammen, was wir über das Verständnis von Zahlen, Daten und Modellen wissen. Elena Esposito zeigt am Beispiel der Wahrscheinlichkeitstheorie, dass Wahrscheinlichkeiten und Statistiken eine Form der fiktionalen Erzählung sind. Wir sind gehalten, diesen Erzählungen eine mathematische Strenge zu geben. Damit entsprechen sie der Forderung von Rationalität, wie wir sie aus der Not zu entscheiden ableiten. Die Not besteht darin, entscheiden zu müssen ohne eine Grundlage außer genau dieser: rational zu entscheiden. Dennoch bleibt das Modell mit seinen Annahmen eine Fiktion. Wir können sie nicht aus der Sache heraus verteidigen, sondern nur über ihre Anschlussfähigkeit. Datenkompetenz erwächst genau aus diesem Verständnis.
Wir können diese Ergebnisse jetzt für unseren Versuch nutzen: Die Verwendung von Modellen der neoklassischen Ökonomie auch unter Unsicherheit zu rechtfertigen und ihnen einen passenden Rahmen zu geben.
Erläuterungen
[1] Das Verhältnis von Realität, Fiktion und Wahrscheinlichkeitstheorie kann als Grundlage dienen, um den genannten Gefahren im Umgang mit Daten zu begegnen. In der Recherche im Anhang befinden sich genauere Vorschläge, die die systemtheoretischen und fiktionalen Perspektiven der Datenkompetenz mit einbeziehen: Gefahren von Daten begegnen
[2] Außerdem gilt, dass selbst unsere Vorstellung von Rationalität kein festes Fundament hat. Ich habe das hier nur angedeutet, aber was wir als rational betrachten ist wahrscheinlich nur Ausdruck dessen, was wir meinen im Umgang mit Fremden als gegeben voraussetzen zu können. Eine kritische Auseinandersetzung mit unserer modernen Vorstellung von Rationalität findet sich zum Beispiel in dem Buch „Wir sind nie modern gewesen, Versuch einer symmetrischen Anthropologie“ von Bruno Latour, siehe Latour 2008.
