Bezüge zur Systemtheorie und Niklas Luhmann
Dieser Abschnitt
Erkenntnis als Konstruktion
Erkenntnis als autopoietische Operation, bei der Systeme durch eigene Operationen Wissen erzeugen.
Wie geschlossen sind Systeme?
Aus einer Innenperspektive gilt: Systeme sind operativ geschlossen und verarbeiten Anreize von außen innerhalb ihrer Grenzen. Aus einer Außenperspektive erscheint dieser Vorgang viel offener.
Die Dynamik von Systemen
Systeme sind kein starres Konstrukt, sondern entsteht fortwährend aus eigenen Kommunikationsprozessen. Das PKRN bietet eine Veranschaulichung.
Systembildung und Sprache
Systembildung findet mit der Sprache statt, nicht in ihr – es bleibt ein soziales Konstrukt. Systeme erzeugen stabile Begriffe.
Anschlüsse an Ludwig Wittgenstein
Bedeutung entsteht durch den Gebrauch in sozialen Situationen.
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Das in diesem Aufsatz von mir vorgestellte Modell nennt sie zwar nicht explizit, baut aber auf der Systemtheorie auf, wie sie von Niklas Luhmann vorgestellt wird. Dieser Bezug ist mir wichtig, weil ich die Perspektive dieser Theorie als grundlegend betrachte. Dementsprechend versuche ich die Bezüge zum Prinzip der Komplexitätsreduktion in Netzwerken (das PKRN) hier noch einmal herzustellen und sie zu beschreiben. Dieser Teil steht im Anhang und nicht im Text als philosophische Nachbetrachtung, weil er keine grundsätzlich neuen Einsichten liefert. Es ist eher wie mit der mathematischen Darstellung, die geeignet ist, die Argumentation zu stützen.
Erkenntnis als Konstruktion
Text
In seinem Aufsatz „Erkenntnis als Konstruktion“ behandelt Luhmann die Thematik des radikalen Konstruktivismus in der Erkenntnistheorie. Die Unterscheidung von System und Umwelt ermöglicht ihm dabei eine Perspektive, in der die Abkopplung von erkennendem System und ihrer Umwelt als Bedingung der Erkenntnis gedacht werden kann.
Kernpunkte
Die Kernpunkte von Niklas Luhmann in „Erkennen als Konstruktion“ sind:
- Erkenntnis als autopoietische Operation: Luhmann sagt, dass alle Systeme, die erkennen – seien es biologische, psychische oder soziale – in sich geschlossen arbeiten. Erkenntnis entsteht durch die eigenen Operationen des Systems. Im Bewusstsein sind diese Operationen Gedanken, im sozialen System Kommunikationen. Es gibt keinen direkten Weg zur Außenwelt. Stattdessen gibt es nur den Unterschied, den das System selbst zwischen sich und der Umwelt macht.
- Radikaler Konstruktivismus: „Weil unmöglich – deshalb möglich“: Frühere Theorien, wie der klassische Idealismus, argumentierten, Erkenntnis sei unmöglich, da kein direkter Zugang zur Realität bestehe. Luhmann sieht das anders. Er behauptet, Erkenntnis sei nur möglich, weil es keinen direkten Zugang gibt. Die Abkopplung – auch operative Geschlossenheit genannt – erlaubt es Systemen, eigene Unterscheidungen zu treffen. Daher können sie eigene Formen der Erkenntnis entwickeln.
- Unterscheiden und bezeichnen: Luhmann sieht Erkennen – sowie Beobachten – als einen Vorgang. Hierbei unterscheidet man etwas und benennt das Ergebnis. Jede Beobachtung braucht also einen Unterschied, der Orientierung bietet – beispielsweise System oder Umwelt oder wahr oder unwahr oder Medium oder Form. Dieser Unterschied selbst lässt sich nicht weiter aufteilen, ohne einen neuen Unterschied als Orientierung zu nutzen. Das ist der „blinde Fleck“ jeder Beobachtung.
- Realität als „differenzloser Begriff“: Luhmann erklärt: Realität erscheint in unserem Erkennen lediglich als ein Unterschied – beispielsweise zwischen Erkennen und dem, was erkannt wird. Doch sie ist auch eine Art äußerste Grenze. Diese Grenze ähnelt Begriffen wie „Welt“ oder „Sinn“. Für sie gibt es keine Gegenseite außerhalb dieses Unterschieds. Anders formuliert: Wenn wir „Realität“ sagen, agieren wir innerhalb unserer eigenen Denkprozesse. Damit sind wir immer Teil des Systems.
- Sprache und soziale Systeme: Luhmann hebt hervor: Sprache ist kein separates System. Vielmehr verbindet sie das Bewusstsein mit der Kommunikation. Mithilfe der Sprache tauschen sich beide Systeme aus – ohne sich jedoch zu vermischen. Dadurch entsteht Komplexität sowie ein Zuwachs an Erkenntnis, etwa in der Wissenschaft.
Sinn-Unterstellung und Sinn-Stabilisierung bei Luhmann
Im PKRN beschreibe ich, dass Wissen zunächst mit einer Sinn-Unterstellung beginnt: „Das könnte so und so sein.“ Die Unterstellung stabilisiert sich durch praktische Bewährung. Genau hier passt Luhmanns Gedanke:
- Sinn-Unterstellung als erste Unterscheidung: Um in der Welt Muster oder Bedeutung zu erkennen, braucht ein System eine Art Annahme. Es braucht eine Deutung oder eine Festlegung von Sinn. Diese Annahme ist wie Luhmanns „blinder Fleck“ – sie ist der notwendige Ausgangspunkt, mit dem ein System arbeitet. Dieser Ausgangspunkt wird nicht weiter hinterfragt.
- Sinn-Stabilisierung durch Selbstreferenz: Ein Muster prägt sich ein, wenn wir es oft kommunizieren oder darüber nachdenken. Das geschieht im Bewusstsein. Das System verknüpft neue Beobachtungen mit der bereits vorhandenen Deutung – es verstärkt die ursprüngliche Annahme. Allerdings nur, solange diese Annahme nützlich ist. Luhmann würde sagen: Das System erhöht seine innere Komplexität. Es passt neue Informationen an seine bestehenden Unterscheidungen an.
- Dekonstruktives Moment: Der Prozess bleibt jedoch kontingent – es hätte also auch anders sein können. Der Dekonstruktivismus nach Derrida, aber ebenso Josef Simons Hinweis auf die Veränderlichkeit von Zeichen, zeigt: Jede Festigung beruht auf etwas Nicht-Notwendigem. Luhmann bekräftigt dies mit den Worten: „Erkenntnis ist nur möglich, weil wir keinen Zugang zur Umwelt haben.“ Das System hätte andere Unterscheidungen treffen dürfen.
Bezüge zu Josef Simon, Alain Badiou und Bernhard Waldenfels
Simon sagt im Grunde: Wir legen fest, was ein Zeichen bedeutet, sobald wir keine Fragen mehr haben. Dieser Zustand, keine Fragen mehr zu haben, macht das Zeichen „bedeutungssicher“. Bei Luhmann sieht es ähnlich aus: Wenn eine Operation – etwa eine Beobachtung – abgeschlossen ist, wird der Unterschied, der sie ausmacht, nicht mehr untersucht. Die Annahme über den Sinn ist dann einfach gegeben – sie funktioniert, solange das System nicht erneut infrage gestellt wird.
Badiou hebt hervor, dass Wahrheit wie ein Ereignis wirkt. Sie dringt als Ereignis in ein System ein und verändert die Situation. In seiner Theorie stützt er sich dabei auf die Mengenlehre der Mathematik. Luhmann würde dies anders ausdrücken – nämlich mit den Begriffen der Systemtheorie. Für ihn bringt ein Ereignis eine neue Beobachtung, also einen neuen Unterschied, in das System ein. Daher hat das System die Möglichkeit, sich zu verändern – vorausgesetzt, es integriert diese neue Bedeutung. Der gemeinsame Punkt besteht darin: Ein System konstruiert seine Wahrheit durch eigene Unterscheidungen. Trotzdem kann diese Wahrheit das System stark verändern.
Waldenfels zeigt in seiner „Phänomenologie des Fremden“, dass jedes Sinnsystem auf etwas trifft, das fremd ist – etwas, das nicht in seine Vorstellungen passt. Auch Luhmann beschreibt etwas Ähnliches in seiner Theorie der System/Umwelt-Differenz. Die Umwelt bleibt im Grunde unzugänglich. Was das System nicht als Teil seiner Abläufe erkennt, gehört als Rest auch dazu. Das Fremde, das Außergewöhnliche, kann aber ein Auslöser sein – ein Auslöser dafür, dass ein System seine Annahmen ändert oder neu aufbaut.
Bezüge zum PKRN
Luhmann passt zu dem in diesem Aufsatz dargestellten pragmatischen Ansatz der Reduktion von Komplexität. Wissen entsteht, wenn Annahmen sinnvoll erscheinen. Sie festigen sich, solange sie dem System helfen – oder bis es größere Störungen gibt. Systeme wollen oder müssen ihre eigenen Abläufe fortsetzen. Das, was sich bewährt, wird also wiederholt und weiterentwickelt. Die Nützlichkeit einer Annahme ist demnach der Maßstab, wie stabil etwas ist.
Es gibt aber die dekonstruktivistische Mahnung: Kein Sinn ist absolut festgeschrieben. Stabilität ist immer nur eine Frage der momentanen Perspektive – jede Interpretation lässt sich grundsätzlich infrage stellen. Dieser Gedanke findet sich bei Luhmann, Simon sowie Derrida. Gerade weil ein System aber eine willkürliche Anfangsdifferenz setzen muss, kann es handlungsfähig bleiben. Der systemtheoretische „Stopp“ oder „Punkt“ im Sinn von „Ich frage nicht weiter“ gleicht dem Verständnis, dass man aufhört zu fragen, sobald etwas als sinnvoll genug erscheint.
„Erkenntnis als Konstruktion“ von Niklas Luhmann betont, dass Wissen nicht entsteht, indem eine äußere Realität abgebildet wird. Vielmehr entsteht Wissen durch systemeigene Prozesse – beispielsweise Unterscheidungen oder Sinnzuschreibungen. Luhmann liefert hierfür die systemtheoretische Grundlage. Kein System kann anders arbeiten als durch sich selbst. Deshalb ist Erkenntnis nur auf diese Weise möglich. Im PKRN erklärt Luhmanns Ansatz, warum ein System überhaupt Muster erkennt: weil es sich selbst an den eigenen Unterscheidungen orientieren muss und an deren Nützlichkeit zur Reproduktion des Systems. Luhmanns Perspektive ist aber eine andere: Während das PKRN sich fragt, wie Systeme durch Komplexitätsreduktion Problem lösen, ist Luhmanns Argumentation, dass ein System gar kein System wäre, wenn es das Muster nicht erkannt hätte. Luhmann argumentiert theoretisch, während das PKRN praktisch vorgeht. Das ist kein Widerspruch. Luhmanns theoretischer Hinweis verweist auf die Emergenz des Problemlösungsprozesses und seinen evolutionären Charakter.
Wie geschlossen sind Systeme?
Text
Wenn ich mich mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann beschäftige, dann habe ich oft den Eindruck, dass Systeme bei Luhmann stabil und operational strikt abgeschlossen sind. Er schreibt sinngemäß, es gebe keinen direkten Zugang zur Umwelt, sondern nur den Unterschied zwischen System und Umwelt, den das System zieht.
Im PKRN sieht das aber auf den ersten Blick ganz anders aus. Es betrachtet Kommunikationen innerhalb eines Systems und eines Systems mit anderen Akteuren in seinem Netzwerk. Alles kommuniziert mit allem. Ein System identifiziert es über die Stärke der Bindungen, die innerhalb und außerhalb des Systems gefunden werden – das System ist eine Nachbarschaft von durch Kommunikation stark miteinander verbundenen Knoten. Die Stärke von Bindungen kann dabei überaus dynamisch sein. Die Definition eines Systems im PKRN erscheint tautologisch: „Zum System gehören alle Kommunikationen, die zum System gehören.“ Wie kann man diesen Widerspruch auflösen?
Brückenschlag
Die systemtheoretische Sicht nach Luhmann betont die operationale Geschlossenheit: Ein soziales System besteht aus Kommunikationsprozessen. Diese Prozesse bauen aufeinander auf – Kommunikation erzeugt neue Kommunikation. Für das System selbst gehören diese Prozesse zum „Inneren“. Alles andere, inklusive Kommunikation von außen, zählt zur „Umwelt“. Strukturelle Verbindungen, zum Beispiel Interaktionen mit anderen Systemen, schaffen Anreize von außen. Aber die Verarbeitung dieser Anreize geschieht innerhalb des Systems. Kurz gesagt: Die gesamte Kommunikation, die für ein System relevant ist, passiert innerhalb seiner Grenzen.
Das mathematisch-netzwerkbasierten Modell des PKRN betont Kolimiten und die Topologie von Knoten und Kanten: Ein System wird so gestaltet, dass alle relevanten Kommunikationen – also die Verbindungen im Netz – in das System eingehen, wenn sie als „zugehörig“ gelten. Die Zugehörigkeit ergibt sich aus der Erzeugung eines Kolimiten durch ein Pushout. Vereinfacht ausgedrückt, ist das System die größte gemeinsame Struktur, die genau zum betrachteten Netzwerksegment passt. Diese Zuordnung wirkt wie eine Wiederholung: Dem System gehören alle Kommunikationen an, die zum System gehören. Anders gesagt: Alles, was als Kommunikation des Systems definiert wird, rechnen wir dem System zu.
Das ist aber keine echter Widerspruch, denn auch bei Luhmann ist „Schließung“ nicht „Abschottung“. Luhmann sagt zwar, ein System sei operativ geschlossen. Aber damit meint er nicht, dass es keine Verbindungen nach außen hat. Er betont vielmehr: Das System operiert nur mit seinen eigenen Operationen. Was es „von außen“ an Störungen bekommt, das schreibt es in sein eigenes Kommunikationsnetz ein – oder eben nicht. Anders gesagt: Dass das PKRN alle Kommunikationen in einen Kolimiten einsammlt, entspricht Luhmanns Idee. Relevante „Irritationen“ müssen ja im System anschlussfähig sein. Wenn die sogenannte Umweltkommunikation nicht zu den Bedingungen des Systems passt, wird sie kein Teil davon. Im Topologie-Modell des PKRN erscheint sie dann einfach nicht – oder nicht als wichtige Verbindung.
Systemgrenzen sind Beobachterperspektiven
Für Luhmann entsteht eine Systemgrenze erst, wenn man unterscheidet. Es gibt „Innen“ – das sind die Operationen mit eigener Logik. Und es gibt „Außen“ – das ist die Umwelt. Doch wer diese Unterscheidung genau vornimmt, hängt vom jeweiligen Betrachter ab. Das System im PKRN lässt sich mit topologischen Konstruktionen – genauer: Kolimiten – erweitern. Dadurch beziehe es „alle vernetzten Kommunikationen“ ein. Luhmann würde deshalb zustimmen: Es geht darum, eine Leitdifferenz zu definieren – also „relevante, anschlussfähige Kommunikation“. Diese Differenz legt die Grenzen auch von Systemen im PKRN fest. Durch Differenz legt das Modell fest, welche Kanten des Netzwerks zu einem System gehören. Die Konstruktion ist kein Gegensatz. Vielmehr ist sie eine besondere Auswahl an Kommunikationsereignissen. Auf diese Weise erklärt das Modell Ereignisse als zusammengehörig – im Sinne von Luhmanns Operationen.
Es wirkt zwar zirkulär, wenn man sagt: „Alle Kommunikationen, die zum System gehören, gehören zum System.“ Luhmanns Systemtheorie ist allerdings selbst zirkulär. Ein System erzeugt seine Bestandteile, Kommunikationen, innerhalb seiner Grenzen immer wieder selbst. Diese ständige Wiederholung – Kommunikation erzeugt sowie erhält das System, das Kommunikation erst möglich macht – stellt das Prinzip der operativen Geschlossenheit nach Luhmann dar. Luhmann bezeichnet dies als autopoietische Zirkularität, angelehnt an Maturana und Varela. Es handelt sich hierbei nicht um eine einfache Tautologie, sondern um den logischen Kern der Selbststabilisierung von Systemen.
Wenn ein System im PKRN mit anderen Akteuren interagiert, dann sollten es diese Verbindungen als Systemkommunikation einbeziehen, wenn sie Teil des Systems sind. Diese Unterscheidung entscheidet sich am Sinn des Systems. Mathematisch bilden wir das ab, indem die entsprechenden Verbindungen des Netzwerks in den Kolimiten integrieren.
Luhmann nennt diesen Vorgang „strukturelle Kopplung“. Das bedeutet: Das System kann sich an Reize von außen anpassen. Allerdings übersetzt es diese Reize in eigene Abläufe. Die Kopplung beeinträchtigt nicht die operationale Geschlossenheit. Stattdessen erlaubt sie Beziehungen zwischen Systemen, die sich gemeinsam weiterentwickeln. Mit dem Kolimiten sagen das PKRN im Grunde: „Ich definiere die Grenze so, dass diese fremden Kommunikationen relevant für mein System sind.“ Ein System nach Luhmann tut genau das auch. Es bezieht bestimmte Irritationen aus der Umwelt in das eigene Kommunikationsnetzwerk mit ein.
Fazit
Das Netzwerkmodell des PKRN wirkt vielleicht offen – es hat viele Beteiligte sowie viele Verbindungen. Aus systemtheoretischer Sicht ist die Bildung von Kolimiten dennoch eine operationale Schließung. Der Vorgang legt nämlich fest, welche Knoten oder Kanten zum System gehören. Alle Kommunikationsvorgänge innerhalb dieser Grenze bilden das System. Es sieht nur so aus, als wäre das eine Tautologie – aber es ist der Kern jedes systemtheoretischen Ansatzes. Das System entsteht durch die Verbindungen, die es zulässt.
Es gibt also keinen wirklichen Widerspruch. Das Netzwerkmodell definiert die Grenze – also den Kolimiten – dynamisch und mathematisch exakt. Es verwendet dabei eine Außenperspektive, weil es grundsätzlich alle Kommunikationen betrachtet. Luhmanns Soziologie hingegen begründet diese Grenze kommunikationstheoretisch aus der Innenperspektive des Systems. Letztlich sagen aber beide Ansätze dasselbe: Ein soziales System ist die Summe aller Kommunikationen im System. Diese Kommunikationen beziehen sich aufeinander und erschaffen das System.
Die Dynamik von Systemen
Text
Aus der kommunikationstheoretischen Beschreibung von Systemen aus ihrer Innenperspektive erscheinen System sehr statisch. Im Netzwerkmodell des PKRN bekommen sie dagegen eine sehr dynamische Form. Vor allem findet man solche Netzwerke fast überall. Sie erstrecken sich wie ein Patchwork in sich überlappenden Schichten über alle Ebenen des Modells.
Luhmanns Systembegriff ist im Grunde auch operativ aufgebaut – er ist also prozesshaft. Oft wird er trotzdem eher „statisch“ interpretiert. Vielleicht liegt das an den abstrakten Begriffen wie „autopoietische Geschlossenheit“ oder „systemeigene Reproduktion“, die Luhmann verwendet. Man kann sie leicht als etwas Festes auffassen. Doch in seiner Theorie steckt viel Bewegung – vor allem Prozesshaftigkeit.
Die Sichtweise des PKRN auf Netzwerke oder Topologien zeigt, wie solche Prozesse ablaufen. Sie hebt Knotenpunkte und Verbindungen – also Kommunikationen – als Teile eines Systems hervor. Zudem nutzt sie Kolimiten und die mit ihnen verwandten Methoden um zu zeigen, wie Verbindungen zusammenlaufen und sich in vernetzten Strukturen ständig verändern. Dadurch wird auch der fließende Charakter von Systemgrenzen deutlich, deren Grenzen sich teilweise überschneiden.
Patchwork von Systemen
Luhmann spricht sogar auch von einem „Patchwork“ sozialer Systeme. Er meinte damit: Es gibt sehr verschiedene Subsysteme, Interaktionssysteme, Organisations- wie auch Funktionssysteme, die nur lose miteinander verknüpft sind. Wenn man sich diese Idee in Erinnerung ruft, hilft der Ansatz des PKRN, dieses Flickwerk jetzt zu verstehen. Oft bemerkt man beim Lesen nur den Unterschied zwischen „System“ und „Umwelt“. Ein Netzwerkmodell zeigt aber die feinen Übergänge, Überlappungen sowie die gemeinsame Entwicklung in Ko-Evolutionen.
Die Sicht auf Netzwerke passt damit gut zum eigentlich dynamischen Ansatz der Systemtheorie. Denn „System“ ist kein starres Konstrukt, sondern entsteht fortwährend aus eigenen Kommunikationsprozessen. Zahlreiche Teilsysteme überschneiden sich – oder stellen völlig neue Umgebungen für andere Teilsysteme dar. Außerdem hängt die Abgrenzung eines Netzwerks stark vom Betrachter ab. Die Knoten und Kanten lassen sich anders wählen – und schon ergeben sich andere „Systeme“ als Ausschnitt derselben Realität. Die Netzwerkbeschreibung des Modells ist daher eine Veranschaulichung für die abstrakte Vorstellung operativ geschlossener Systeme.
Systembildung und Sprache
Systembildung findet mit der Sprache statt, nicht in ihr – es bleibt ein soziales Konstrukt – eine Klarstellung
Luhmann trennt scharf zwischen Sprache als Medium einerseits und Systemen wie Bewusstsein oder sozialen Gebilden andererseits. Diese Systeme arbeiten mit Sprache. Für ihn folgt daraus, dass Sprache selbst kein sich selbst erschaffendes System ist. Soziale Systeme erzeugen Kommunikation. Im Gegensatz dazu reproduziert sich Sprache nicht selbst durch ihre Elemente. Stattdessen liefert sie Zeichen, Ausdrücke oder Laute. Bewusstseins- oder Kommunikationsprozesse greifen dann darauf zurück.
In Luhmanns Theorie verbindet Sprache das Bewusstsein, also das psychische System, mit dem Sozialsystem – der Kommunikation. Die beiden Systeme bleiben zwar getrennt in ihrer Arbeitsweise, aber sie nutzen Sprache, um sich gegenseitig anzustoßen. Ein Bewusstsein denkt mithilfe sprachlicher Vorstellungen, etwa innerer Bilder von Lauten. Ein soziales System kommuniziert nur dann gut, wenn es Ausdrücke nutzt, die verständlich sind. Andere Bewusstseinssysteme sollten diese entschlüsseln. Begriffsbildung in der Sprache ist aus der Sicht von Luhmann deshalb eine Sozial- oder Bewusstseins-Operation.
Begriffe sind keine Systeme
Luhmann würde es nicht als Systembildung auffassen, wenn Begriffe innerhalb der Sprache hergestellt und stabilisiert werden. Er würde dies eher als einen besonderen Vorgang innerhalb der sozialen Kommunikation oder des psychischen Denkens sehen – jeweils mit der Sprache als Werkzeug. Ein Beispiel: Eine Gruppe von Wissenschaftlern entwickeln neue Fachausdrücke. Das ist kommunikative Selbstorganisation des Wissenschaftssystems. Oder jemand formt innerlich ein neues Konzept und entwickelt es gedanklich weiter. Das ist psychische Selbstorganisation seines Bewusstseins.
Sprache nutzt viele Unterscheidungen, Erfindungen sowie Festlegungen von Begriffen. Aber Luhmann würde sagen, dass diese Erfindungen nicht das „System Sprache“ bilden. Denn für ihn ist Sprache kein autopoietisches System – sie ist also auch keine komplett unabhängige Einheit. Sprache bleibt ein Medium. Wenn Fachleute zusammen an einer Idee arbeiten und diese dann immer gleich verwenden, entsteht etwas Eigenständiges in der Wissenschaft. Doch die Sprache selbst – mit ihrer Grammatik, den Wörtern sowie ihrer Bedeutung – dient nur als gemeinsam geteilte Struktur. Sie erzeugt sich nicht selbst durch rein sprachliche Operationen.
Die Systembildung liegt in der Kommunikation
Dynamik, Differenzierung und Begriffsbildung passiert also auf der Ebene der Kommunikation. Man könnte sagen: „Diese Gemeinschaft formt ein System aus Begriffen sowie Beziehungen.“ Luhmann würde antworten, das sei eine sinnvolle Aussage – allerdings aus dem Blickwinkel der Beobachtung sozialer Autopoiesis. Die semantische Ordnung entsteht innerhalb der Kommunikation über Konzepte sowie durch sie. Die Verteilung ebenso wie die Verfestigung dieser Konzepte lassen sich als System analysieren. Aber es handelt sich nicht um ein Sprachsystem, sondern um einen konzeptionell geschlossenen Teilbereich des sozialen Systems.
System erzeugen stabile Begriffe
Wenn ich aus der Perspektive des PKRN also sage: „Innerhalb der Sprache beobachten wir Systembildung (Begriffsnetzwerke, Terminologien, semantische Felder), ließe sich das systemtheoretisch so übersetzten: „Das soziale System erzeugt im Rahmen seiner internen Prozesse eine stabile Begriffsstruktur. Diese Struktur wird durch Sprache als dem Medium seiner Kommunikation aufrechterhalten.“
Luhmann würde die Stabilisierungen anerkennen. Aber er wäre nicht einverstanden, Sprache als ein autopoietisches System zu bezeichnen – also nach dem Motto „Ein Wort erzeugt das nächste“. Für Luhmann ist Sprache ein Medium. Kommunikation oder Bewusstsein hingegen ist ein System. „Begriffsbildung“ ist ein besonderer Vorgang innerhalb des Systems. Dabei nutzt das System das Medium. Auf diese Weise kann das PKRN mit den Begriffen von Luhmann arbeiten. Wichtig ist, dass deutlich ist: Mit „systemisch in der Sprache“ bezeichnet das Modell das Festigen sozialer oder psychischer Ideen durch Sprache. Es geht nicht darum, dass ein unabhängiges Sprachsystem entsteht. Die Überlegungen dieser Klarstellung motivieren dazu, auch noch einmal die Vorstellungen von Ludwig Wittgenstein aufzugreifen und Anschlüsse an das PKRN zu finden.
Anschlüsse an Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie
Text
Um Wittgenstein besser zu verstehen, hilft es, seine Sicht auf Sprachgebrauch, Lebensformen sowie regelbasierte Handlungen zu betrachten. Aus dieser Warte wird deutlich, wie die im Modell erwähnte „Systembildung“ in der Sprache funktioniert – das heißt, wie sich Begriffe etablieren und festigen. Wittgensteins Sichtweise passt sowohl zu Luhmanns Idee der „Sprache als Medium“ als auch zu dem Ansatz der Netzwerk- oder Begriffsdynamik.
Sprachspiele und Kontextgebundenheit
Wittgensteins Idee der Sprachspiele, aus seinen Philosophischen Untersuchungen, besagt: Es existiert keine einzelne, abgeschlossene Sprache. Stattdessen gibt es viele verschiedene Arten, Sprache zu gebrauchen. Sprachspiele sind mit sozialen Gewohnheiten verbunden, also mit bestimmten Lebensweisen. Damit stellt Wittgenstein den Sprachgebrauch in den Mittelpunkt. Die Bedeutung eines Begriffs zeigt sich darin, wie er in konkreten Situationen benutzt wird, in denen Menschen handeln und miteinander reden.
Nach dem PKRN entwickeln sich Begriffe durch soziale Interaktion. Sie festigen sich dabei. In der Sprache Wittgensteins würde man sagen: Ein Sprachspiel hilft, einen Begriff zu erzeugen und zu verankern. Es trägt zu seiner Reproduktion und Verfestigung bei. Die Festigung passiert durch den alltäglichen oder fachlichen Gebrauch – also in einem bestimmten Zusammenhang.
Wittgensteins „Sprachspiel“ lässt sich aus Luhmanns Perspektive als ein Kommunikationszusammenhang sehen. In diesem Zusammenhang greift man bestimmte Unterschiede auf – zum Beispiel wahr oder unwahr, passend oder unpassend, akzeptiert oder nicht akzeptiert. Erst in diesem laufenden Kommunikationsprozess, also dem „Spiel“, entsteht ein soziales System. Dieses System hat bestimmte semantische Strukturen, etwa Wortbedeutungen sowie Begriffe.
Regelgebundene Praktiken und Formen des Lebens
Wittgenstein zeigt, dass wir Sprache nach Regeln gebrauchen. Allerdings existieren diese Regeln nur, weil sie in der Praxis angewendet werden. Sie existieren nicht losgelöst von der Gemeinschaft, die sie nutzt. Diese Gemeinschaften – auch Lebensformen genannt – schaffen den nötigen Rahmen. Erst dadurch ergeben Sprachspiele einen Sinn und können Regeln befolgt werden.
Beim Modellieren von Netzwerken haben die einzelnen Knoten – ob Akteure, Teilgruppen oder Disziplinen – teilweise ähnliche, aber auch abweichende Regeln. Diese Regeln betreffen etwa Nutzungsgewohnheiten oder Begriffsdefinitionen. Sie vernetzen sich dann miteinander. Dadurch entstehen lokale Sprachspiele. Zusammengenommen ähneln diese einem Patchwork oder Schichten.
Luhmann würde wohl sagen: Unterschiedliche Systeme – etwa eine wissenschaftliche Gemeinschaft, eine Organisation oder eine Interaktion – haben eigene Regeln, Programme oder auch Gespräche. Zwar nutzen sie alle Sprache. Doch jedes System hat spezielle interne Regeln, wie man sich verständigen darf und worauf man passend reagiert. Dadurch entstehen Bereiche, die ihre Sprachgewohnheiten festigen.
Entstehung von Bedeutung durch Gebrauch
Wittgenstein unterstreicht: Wir entdecken die Bedeutung nicht, wenn wir eine innere Referenz suchen – also eine Definition, die angeblich die wahre ist. Stattdessen beobachten wir, wie ein Wort tatsächlich verwendet wird. Bedeutung entsteht hauptsächlich durch den Gebrauch in sozialen Situationen.
Die Idee zur Stabilisierung von Begriffen durch Nutzung im PKRN entspricht Wittgensteins Maxime „Bedeutung ist Gebrauch“. Im Netzwerkmodell bedeutet das: Ein Begriffsknoten erhält seine Bedeutung durch seine Verbindungen – also Art sowie Intensität der Edges. Viele Kommunikationen bewähren diese Verbindung. Dadurch stabilisiert sich der Knoten, sprich der Begriff.
In Luhmanns Sprache ausgedrückt, setzt eine Kommunikationseinheit die „Wahl“ eines bestimmten Begriffs fort. Ein beobachtbarer Sprechakt oder Text ist eine solche Einheit. Dadurch entsteht eine Wahrscheinlichkeit für weitere Verwendungen. Der Begriff wiederholt sich wahrscheinlicher – dadurch entwickelt er eine Art Eigenstabilität. Diese Stabilität ist eine „semantische Institutionalisierung“ im sozialen System.
Fazit
Wittgenstein und Luhmann lehnen beide die Vorstellung ab, dass Sprache ein Ding mit festen Eigenschaften ist. Sie betonen, dass Bedeutung und Strukturen im Kontext (sozial oder systemisch) durch Handlungen oder Kommunikation entstehen. Die Netzwerkidee zur Stabilisierung und Verflechtung von Begriffen erinnert an Wittgensteins Aussage, dass Bedeutung im Gebrauch entsteht, und an Luhmanns These, dass Kommunikation soziale Systeme erzeugt.
Wittgensteins Ansatz hilft, die Entstehung von Begriffen und Regeln im Netzwerk-Modell zu erklären: Wie setzt sich ein Begriff im Netzwerk durch? Luhmanns Theorie bietet die systemtheoretische Sprache, um diese Netzwerke als Operationen (Kommunikation, Sinnzuschreibung) zu verstehen. Diese Netzwerke sind autopoietisch geschlossen, aber strukturell gekoppelt. Der Ansatz des PKRN, Begriffsnetzwerke zu beschreiben, ähnelt Wittgensteins Sprachspielen. Er entspricht der Vorstellung Wittgensteins, wenn das Modell die tatsächliche Nutzung abbildet (wer nutzt welchen Begriff wann? Wie ändert sich die Nutzung?) und so die „Bedeutung durch Gebrauch“ sichtbar macht.
