Komplexitätsreduktion in der Kommunikation von Akteuren in einem Netzwerk. Ein universelles Prinzip.
Die Grundidee des Prinzips der Komplexitätsreduktion in Netzwerken.
Sinnunterstellung, Stabilisierung und Handhabung von Signalüberschüssen
Clusterbildung, Small-World-Theorie und Solitonen
sozial, semantisch, syntaktisch
Die zeitliche Komponente
Autopoiesis und zeitliches Chunking, Modulation und Faltung von Zeit, Verknüpfung von zeitlichem und strukturellem Chunking
Der Einfachheit halber bezeichne ich das hier entwickelte Modell oder Prinzip als PKRN.
Grundgedanken
Sinnunterstellung, Stabilisierung und Handhabung von Signalüberschüssen
Text
Im Zentrum unserer Überlegungen steht folgender Gedanke: Information hängt mit einem Überschuss an Bedeutungen aus der Menge beobachtbarer Signale zusammen. Um diesen Überschuss zu bewältigen, müssen Systeme (kognitive, soziale, technische, wirtschaftliche usw.) Signale auswählen. Wenn sie auswählen, entscheiden sie sich damit für eine Bedeutung der Signale[1]. Sie unterscheiden zwischen bedeutsamen und nicht bedeutsamen Signalen. Die Reduktion auf bedeutsame Signale geschieht, indem sie ihrer Auswahl einen Sinn unterstellen. Sie treffen also eine Annahme über die Bedeutung von Signalen, die zu ihrer Sinnunterstellung passt. Aus dieser Unterstellung heraus bilden sie Strukturen, die den Umgang mit der Fülle an Signalen erleichtern[2].
[1] Claude E. Shannon und Warren Weaver stellten in „The Mathematical Theory of Communication“ (1949) ein Modell für Nachrichtenübertragung vor. Shannon fokussierte sich auf die Quantifizierung der Informationsübertragung, definierte Information als Verringerung von Ungewissheit und führte den Begriff der Entropie ein. Weaver erweiterte Shannons Modell um die Unterscheidung dreier Ebenen im Kommunikationsprozess: technische, semantische und Wirksamkeitsprobleme. Die Theorie fokussiert primär quantitative Aspekte von Information, insbesondere Signalübertragung und Kanalkapazität. Sie räumten jedoch ein, dass Kommunikation eine semantische Dimension besitzt, die über die reine Datenübermittlung hinausgeht. Weaver betonte die Relevanz semantischer Probleme und damit die inhaltliche Interpretation. Sinn entsteht durch die Bedeutungszuweisung von Empfängern zu Signalen, wodurch eine semantische Ebene über der technischen Ebene etabliert wird. Claude E. Shannon & Warren Weaver: „The Mathematical Theory of Communication“
[2] Weicks Sensemaking-Theorie untersucht die Reduktion von Unsicherheit durch die nachträgliche Zuweisung von Bedeutung zu Ereignissen in Organisationen und sozialen Kontexten. Der Sensemaking-Prozess beinhaltet die Wahrnehmung von Unklarheiten, die Bildung von Hypothesen über potenzielle Bedeutungen und die anschließende Entwicklung einer gemeinsamen Interpretation durch soziale Interaktion. Die Theorie betont die Notwendigkeit der Annahme von Sinn oder Bedeutung zur Erkennung und Interpretation von Mustern. Karl E. Weick, Sensemaking in Organizations
Der Prozess der Signalverarbeitung verläuft dabei in zwei Schritten:
Sinnunterstellung: Ohne eine Annahme über die Bedeutung von Signalen könnte das System die Menge eingehender Signale nicht bewältigen. Erst durch die Unterstellung von Sinn („Das könnte relevant sein!“) beginnt die Informationsverarbeitung.
Stabilisierung: Ist ein Muster oder eine Bedeutung nützlich und bewährt sich in der Praxis, dann wird es durch seinen Gebrauch gefestigt. In der Praxis besteht der Gebrauch aus Wiederholungen und Routinen. Sie entwickeln sich zu Konventionen und Gebrauchsmustern, zum Beispiel in der Sprache[1]. So entstehen stabile Bedeutungseinheiten, die wie eine Black-Box wirken[2]. Diese verschließen den Blick auf das dahinter liegende komplexe Geschehen.[3]
[1] Information entsteht gemäß Bateson, wenn eine Differenz für ein System relevant ist. Eine Differenz wird erst durch die Zuschreibung von Bedeutung durch ein System (biologisch, sozial oder technisch) zu Information. Batesons Konzept bezieht sich auf Kybernetik und Systemtheorie, die Rückkopplung und Kontext berücksichtigen.
[2] Herbert Blumer (Symbolischer Interaktionismus, Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation) betont, dass Bedeutung im sozialen Austausch entsteht – Symbole sind Resultate und Mittel kommunikativer Prozesse. Bruno Latour wiederum beschreibt in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), wie heterogene Elemente (Menschen, Dinge, Diskurse) durch Übersetzungsprozesse stabilisiert und in Black Boxes eingeschlossen werden: Sobald ein komplexes Gefüge stabil genug ist, wird es als einfache Einheit behandelt – seine innere Komplexität verschwindet aus dem Blick, solange es funktioniert. Wenn man nun komplexe, zusammengesetzte Symbole als Ergebnis solcher sozialen Bündelungs- und Stabilisierungsprozesse versteht, dann lässt sich sagen: Diese Symbole sind Black Boxes im Sinne Latours. Sie bündeln vielfältige Bedeutungen, Erfahrungen, Handlungen und Kontexte, und ermöglichen dadurch, dass sie im kommunikativen Alltag als „etwas Einfaches“ verwendet werden können – ohne dass ihre innere Struktur ständig neu ausgehandelt werden muss.
[3] Organisationen funktionieren als Systeme, die fortlaufend Erwartungen bezüglich ihrer Umgebung und ihres eigenen Verhaltens bilden, überprüfen und modifizieren. Ähnlich dem Gehirn (siehe z.B. Andy Clark, „Sufing Uncertainty“) antizipieren Organisationen mögliche Entwicklungen. Sie passen Wahrnehmung, Entscheidungen und Handlungen daran an. Die kollektive Sinnstiftung (siehe Karl Weick, Sensemaking in Organizations) wird zu einem organisationalen Prozess der Vorhersage, der über Menschen, Prozesse und Strukturen verteilt ist. Die Sinnstiftung entspricht der Vorab-Hypothese, die das System über die Welt hat.
Beschreibung als Kolimiten
In der Sprache der mathematischen Kategorientheorie lassen sich diese stabilisierten Muster als Koplimiten[4] beschreiben: Strukturen (lokale Bedeutungen, Ideen, Routinen) „fügen“ sich über Morphismen zu einem emergenten Ganzen zusammen. Ein Kolimit ist jene formal definierte „universelle Konstruktion“, in der sich die Relationen zwischen Teilstrukturen zu einem neuen stabilen Objekt verdichten. Genau das geschieht, wenn Sinnunterstellungen sich als tragfähige Bedeutungen durchsetzen und zu „Chunks“ oder Wissensclustern werden.
Durch die Stabilisierung über Kolimiten wird ein heterogenes Feld an Signalen auf wenigere behandlungsfähige „Einheiten“ reduziert. Die Signale können Marktdaten, Kundenfeedback oder technische Inputs sein. Damit ist Komplexität handhabbar. In der Praxis könnten folgende Beispiele auftreten:
- Unternehmen betrachten komplexe Prozessketten als standardisierte Module;
- In sozialen Interaktionen stabilisieren sich Begriffe und Narrative, auf die man sich einigen kann;
- In technischen Kontexten (z. B. Software) entstehen standardisierte „Schnittstellen“ (APIs, Protokolle usw.), die intern ihre Komplexität verbergen.
Durch wiederholte erfolgreiche Verwendung stellen Nutzer diese Strukturen weniger in Frage. Sie „leben“ als Black Boxes und ermöglichen damit zügiges, ressourcensparendes Handeln und Kommunizieren.
[4] Siehe ausführliche Definition im Anhang Kolimiten
Die Etablierung von Strukturen
Clusterbildung, Small-World-Theorie und Solitonen
Text
Wie sich Sinnstrukturen oder Kolimiten bilden können, erklärt die Small-World-Theorie von Duncan Watts und Steven Strogaz[1]. Die Theorie besagt, dass Netzwerke lokale Cluster ausbilden, innerhalb derer ein intensiver Austausch stattfindet. Dies sind eng verknüpfte Gruppen mit starken Verbindungen. Zugleich sind sie über wenige, aber entscheidende schwache Verbindungen über die Cluster hinweg vernetzt. Die an diesen Verbindungen beteiligten Knoten nennt man Brückenknoten[2]. Über sie können Informationen prinzipiell das ganze Netzwerk durchdringen.
Dieser Mechanismus ist zentral, um zu verstehen, warum sich in Netzwerken lokal stabilisierte Muster bilden, während globaler Austausch möglich bleibt. Beispiel: In Unternehmen existieren Abteilungen oder Projektgruppen mit sehr dichter interner Kommunikation. Zwischen diesen Abteilungen gibt es meist nur einzelne „Gatekeeper“ oder Verbindungsstellen. Aber genau diese sind wichtig, damit übergreifendes Wissen entsteht.
[1] Duncan J. Watts & Steven H. Strogaz, Collective dynamics of ‘small-world’ networks, NATURE, Vol. 393, June 1998
[2] Siehe auch: Das Ordnen der Dinge, Von den Unbestimmtheiten und Unsichtbarkeiten des Klassifizierens, Cornelius Schubert, in Susan L. Star (2017). Grenzobjekte und Medienforschung
Bezeichnungen der Muster
Für diese lokal stabilisierten Muster gibt es in ihren verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bezeichnungen:
- Cluster sind in diesem Sinne jene dichten Gruppen im Netzwerk, wo sich Akteure intensiv miteinander austauschen und Bedeutungen sich besonders rasch stabilisieren.
- Chunks (aus der Kognitionspsychologie entlehnt) bezeichnen dieselbe Idee auf der Ebene der Wahrnehmung bzw. Speicherung: einzeln relevante Informationseinheiten, die zur besseren Handhabbarkeit zusammengefasst werden.
- Kolimiten beschreiben in der formalen Sprache der Kategorientheorie, wie lokalen Strukturen sich zu einem emergenten Ganzen zusammensetzen und (rekursiv) stabil bleiben.
- Solitonen verdeutlichen den Aspekt eines stabilen Musters, das sich in einem dynamischen Netzwerk behauptet und „seine Form“ beibehält. Sie bleiben stabil, selbst wenn sich das Muster durch das Netzwerk bewegt oder leicht anpasst. Beispiele sind ein erfolgreiches Geschäftsmodell, das in verschiedenen Kontexten wiedererkannt wird; ein hartnäckiges Narrativ, das durch unterschiedliche Teams hinweg fortbesteht.
Die Größe der Cluster
Nach der Small-World-Theorie bilden sich Strukturen dort, wo sich der Nutzen im Verhältnis zum Aufwand lohnt. Die Investition in die Stabilisierung von Strukturen (Energie, Zeit, Ressourcen) darf deshalb nicht zu groß sein. In einer Semiosphäre nimmt der Aufwand für die Kommunikation von Bedeutung mit dem Abstand vom Zentrum überproportional zu[1]. Die begriffliche Distanz zwischen Knoten im Netz hat also ihre Grenzen[2]. Deshalb entstehen lokale Cluster, in denen Sinn und Bedeutung leichter gefestigt werden können. Bedeutungen überwinden lange Distanzen nur mit größeren Anstrengungen („Übersetzungsarbeit“ zwischen verschiedenen Subkulturen, Branchen, Regionen). Auf diese Weise ist auch die Größe von praktikablen Clustern in Netzwerken begrenzt[3].
[1] Siehe Jurij Lotman, Die Innenwelt des Denkens, Kapitel 8. Der semiotische Raum
[2] Siehe dazu metaphorisch auch bei Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Seite 126: „Die Aufrechterhaltung von Macht ist kostspielig, weil sie der Gegenkraft des Raumes abgerungen werden muss – weil Straßen gebaut und instand gehalten, Botensysteme etabliert, militärische Stützpunkte errichtet, lokale Eliten willfährig gemacht und Ressourcen weiträumig umverteilt werden müssen.“
[3] Eine hierarchische Organisationsstruktur lässt sich als Struktur rekursiver Kolimiten auffassen, die sich nach der Netzwerktopologie richten. Lokale Kolimiten entstehen aus kleineren Clustern, etwa Teams oder Abteilungen. Diese lokalen Kolimiten aggregieren auf höheren Ebenen zu Makro-Kolimiten, beispielsweise der gesamten Organisation. Die Stabilität dieser Kolimiten korreliert mit der Anzahl der Akteure (in der abstrakten Vorstellung der ANT), die ihre Aufrechterhaltung unterstützen. Die Small-World-Theorie beschreibt die Entstehung solcher Organisationsstrukturen. Sie basiert auf der Tendenz zur Clusterbildung durch ausgeprägte lokale Verbindungen und dem Vorhandensein schwacher Verbindungen zwischen diesen Clustern. Die Netzwerkstruktur beeinflusst die Bildung von Kolimiten und die Herausbildung hierarchischer Organisationsebenen. Die Theorie betont die Bedeutung der Netzwerkstruktur für das Verständnis der Organisationsform.
Wissen als dreigliedrige Netzwerkstruktur
sozial, semantisch, syntaktisch
Text
Nach Renn, Wintergrün, Lalli, Laubichler und Vallerani[1] bilden sich Wissensstrukturen in einem dreigliedrigen Netzwerk. Die Struktur besteht aus:
- Sozialen Netzwerken: die Beziehungsebene zwischen Personen, Gruppen oder Organisationseinheiten (Kommunikation, Vertrauen, Machtstrukturen).
- Semantischen Netzwerken: die inhaltliche Ebene, die Bedeutungen, Begriffssysteme, Modelle und Theorien verknüpft (z. B. Fachbegriffe, Deutungsrahmen, Narrationen).
- Syntaktischen (bzw. semiotischen) Netzwerken: die Ebene der Zeichen, Dokumente, Artefakte und formalen Codes. In ihnen ist Wissen verkörpert oder niedergeschrieben (z. B. Produktdesigns, technische Manuals, Verträge, Softwarecode).
[1] Jürgen Renn, Dirk Wintergrün, Roberto Lalli, Manfred Laubichler, Matteo Valleriani, „Netzwerke als Wissensspeicher“ in „Die Zukunft der Wissensspeicher: Forschen, Sammeln und Vermitteln im 21. Jahrhundert“, Konstanzer Wissenschaftsforum, Hrsg Jürgen Mittelstraß, 2016
Die Semiosphäre
Aus diesen drei Komponenten entsteht der Raum, in dem Bedeutungen existieren. Jurij Lotman bezeichnet diesen Raum als „Semiosphäre“. In ihm stabilisiert sich Bedeutung auf Basis der Zeichensysteme, die Akteure für ihre Kommunikation verwenden. Alle Transaktionen innerhalb der Netzwerke sind Kommunikationen:
- Ein Kaufvorgang ist die Interaktion zweier sozialer Akteure (soziales Netzwerk),
- die Buchung in der Finanzsoftware referenziert auf definierte Codes (syntaktisches bzw. semiotisches Netzwerk),
- die Entscheidung über den Wert oder Sinn dieser Transaktion stützt sich auf die zugrundeliegenden Begriffe, Interpretationen und Prognosen (semantisches Netzwerk).
In dieser dreigliedrigen Struktur bilden sich ebenfalls stabile Wissenscluster oder Black Boxes: ein etablierter Prozess, ein anerkannter Marktwert, eine gängige Organisationsstruktur. Die Clusterbildung verlagert Details an andere Stellen oder blendet sie aus. Das Gesamtsystem bleibt handlungsfähig, auch wenn es kompliziert wird.
Die zeitliche Komponente
Autopoiesis und zeitliches Chunking
Text
Jede Organisation oder Gruppe von Akteuren, die Sinn stabilisiert, arbeitet autopoietisch: Sie erzeugt sich selbst fortlaufend, indem sie den eigenen „Kern“ (Identität, Struktur) aufrechterhält. Signale (Marktveränderungen, Krisen) nimmt sie zwar auf, sie regiert aber nur bei hinreichender Irritation oder Anomalie mit einer Anpassung. Diese Selbsterzeugung geht über die reine Wiederholung hinaus. Sie ist ein Balanceakt zwischen Stabilität (fortwährende Reproduktion bekannter Muster) und Innovation (Anpassung, wenn Altbewährtes nicht mehr trägt).
Modulation von Zeit
Wissen hat also nicht nur eine räumliche (Cluster-)Struktur, sondern auch eine zeitliche Dimension. Zeitliches Chunking bedeutet, dass das Netzwerk seine Zeitlichkeit moduliert. Ein Unternehmen, oder ein Team verwendet Rhythmen, Perioden, Berichtszyklen oder Projektphasen. In diesen zeitlichen Strukturen friert es den Informationsstand ein, auf dem es lernt und Entscheidungen trifft. Statt permanent alle Daten zu beobachten, fokussiert man sich. Rückkopplungszyklen in Projekten, Sprints und Planungszyklen führen dazu, dass die Akteure neue Informationen sammeln und integrieren.
Dieses zeitliche Chunking erlaubt es, die Gegenwart als „Fenster“ zu konstruieren, in dem das System handlungsfähig bleibt. Sind Veränderungen gering, bleibt der Rhythmus stabil. In Krisenphasen wird gegebenenfalls eine „feinere Taktung“ angewandt, um schneller zu reagieren.
Aus der zeitlichen Perspektive erhält die Selbstreferenz des Systems auch ganz grundsätzlich eine interessante Struktur. In seiner Selbsterzählung greift das System nämlich auf bekannte Muster zurück. Dies geschieht durch Erzählstrukturen, die das System fortlaufend rekonstruiert. Organisationen nutzen zum Beispiel Narrative, um Unsicherheit zu reduzieren. Sie interpretieren Ereignisse im Licht ihrer Erfahrungen. Das Gehirn beispielsweise nutzt ein „Predictive Processing“ Modell (Bayesianische Wahrnehmung), das aktuelle Wahrnehmungen nicht direkt verarbeitet, sondern gegen bestehende Erwartungen abgleicht. Dadurch bleibt die Wahrnehmung kohärent, auch wenn sich die Realität ändert.
Selbstirritation
Veränderungen werden vom System berücksichtigt, wenn sie das bestehende Muster signifikant stören – wenn also eine „Irritation“ im Vergleich zur Selbsterzählung auftritt. Diese Irritation führt zu einer selektiven Anpassung des Systems, so dass es neue Elemente in die bestehende Struktur integriert. In dieser Form setzt sich die Selbsterzählung des Unternehmens aus aktuellen und vergangenen Einflüssen zusammen. Dabei entscheidet das System, wie es die Gewichte zwischen Gegenwart und Vergangenheit verteilt. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, der unter anderem auch für die Modellierung von Zeitfenstern sorgt (praktisch werden neue Ereignisse mit einer sehr niedrigen Priorität versehen).
Interessanterweise kann die Mathematik dieses Verhalten mit Zeitreihenmodellen abbilden, die große Ähnlichkeit mit Viskositätsmodellen haben[1]. Das System faltet gewissermaßen seine Zeit. Das System verändert die Gewichtung zwischen vergangenen und gegenwärtigen Beobachtungen, wenn seine gegenwärtigen Beobachtungen nicht mit seinen Erwartungen übereinstimmen. Es passt seine Selbsterzählung an und kommt zu einer anderen Faltung[2] der Zeit.
[1] Details dazu habe ich im Anhang zusammengestellt: Zeitliches Chunking durch Zeitreihenmodelle
[2] Die Faltung von Zeit, auch als zeitliche Faltung bekannt, bezeichnet die Anwendung eines mathematischen Faltungsoperators auf zeitabhängige Signale oder Funktionen. Diese Operation kombiniert zwei zeitabhängige Funktionen, beispielsweise ein Eingangssignal und die Impulsantwort eines Systems, zu einer resultierenden Funktion.
Asynchrone Netzwerke
Menschen und Organisationen sind hochkomplex und netzwerkartig strukturiert. Sie besitzen ein je eigenes Sozial- oder Wahrnehmungssystem, verknüpfen intern zahlreiche Wissens-Domänen und Dokumentationsformen. Gleichzeitig sind sie Teil größerer Zusammenhänge (z. B. Branchen, globale Wertschöpfungsketten). So erklärt sich, warum zeitliches Chunking und Selbstorganisation auf mehreren Hierarchieebenen gleichzeitig stattfindet: vom individuellen Tagesrhythmus über Abteilungsmeetings bis hin zum Jahresabschluss des gesamten Konzerns.
Da alle diese Akteure eine eigene Zeitlichkeit haben, kommt es zu Effekten aus dem asynchronen Verlauf der Prozesse. Sie falten ihre Zeit individuell und unterschiedlich, so dass sich vergangene und aktuelle Beobachtungen unterschiedlich in ihren Selbsterzählungen auswirken. Dadurch unterscheiden sie sich im Ergebnis eventuell erheblich voneinander.
Eine besondere Zeitlichkeit haben in diesem Zusammenspiel Akteure, die nicht auf Menschen angewiesen sind. Die Interpretation von Dokumenten, (klassischen) Maschinen und Infrastrukturen verändert sich nicht so schnell, wie sich die laufende Kommunikation an aktuelle Themen anpasst. Wie Bruno Latour hervorhebt, erzeugen sie dadurch eine große Stabilität, die unsere Sozialsystem stützt[1].
[1] Dinge stabilisieren soziale Ordnung, weil sie unabhängig von individueller Absicht und Erinnerung wirken, Verhalten strukturieren und soziale Erwartungen in materielle Formen übersetzen. Ihre besonderen Eigenschaften: (1) Persistenz: Sie behalten ihre Eigenschaften, selbst bei Veränderungen der beteiligten Personen oder bei Vergessen. Ein Türschloss, ein Vertrag oder ein Software-System wirkt zeitlich stabilisierend – es „erinnert“ an Regeln, auch wenn niemand mehr darüber spricht. (2) Materialität / Widerständigkeit: Dinge können Verhalten erzwingen oder einschränken. Einbahnstraßenschilder, Zugangskarten und technische Protokolle sind mehr als Symbole. Sie beeinflussen unser Handeln direkt. (3) Latour argumentiert außerdem, dass Dinge menschliche Absichten übernehmen können. Ein Fahrkartenautomat ersetzt Personal, ein Algorithmus trifft Kreditentscheidungen. So erscheinen Dinge wie Regeln, die selbstständig agieren.
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
Als Beispiel können wir Thomas S. Kuhns Theorie über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen noch einmal genauer ansehen[2]. Nach Kuhns Theorie kommt es zu einem Paradigmenwechsel, wenn sich Anomalien häufen. Dies sind neue Daten, die dem Paradigma widersprechen und seinen Rückhalt schwächen. Abweichende Beobachtungen führen dann zunächst zu veränderten Kommunikationen einzelner Akteure, weil sie Erfahrungswissen neu gewichten. Innerhalb einer sozialen Gruppe, zum Beispiel einer Wissenschaftsgemeinschaft, laufen die Prozesse anfänglich ähnlich ab. Signale, die vermehrt von den Erwartungen der Akteure abweichen, führen dann dazu, dass sich Interpretationen und Kommunikationsmuster verändern. Dokumentationen stabilisieren Kommunikationsmuster zwar zunächst. Ab einer gewissen Schwelle aber werden diese Signale nicht mehr ignoriert beziehungsweise aus der Kommunikation herausgefiltert. Es kommt zur Veränderung des Paradigmas.
[2] Siehe „Wie Markt-Umbrüche entstehen“ als Teil der Beschreibung der Wirtschaft als ein emergentes, intelligentes Netzwerk: Soziale Informationsverarbeitung
Die Verknüpfung von zeitlichem und strukturellem Chunking
Mit der Veränderung von Verarbeitungsparadigmen passt jeder Akteur erstens die Gewichte an, mit denen er seine Aufmerksamkeit im Netzwerk seiner Umgebung verteilt. Zweitens verändert er seine Übersetzungsarbeit im Netz und damit seinen Output. Das muss nicht ohne Auswirkungen auf die Kommunikationspartner im Netzwerk bleiben. Mit Bezug auf Thomas S. Kuhn können wir damit rechnen, dass sich auch im Netz Paradigmen verändern und ab einer gewissen Schwelle neu anordnen.
Diese Art von Prozess verbindet damit die Auswirkungen des zeitlichen Chunkings mit den Ergebnissen seiner strukturellen Komponente. Gleichzeit wissen wir, dass auch die Struktur einen Einfluss darauf hat, wie Akteure ihre Umgebung beobachten und sehen. So stoßen wir wieder auf den emergenten Prozess der Beobachtung, Interpretation und Strukturbildung, der sich daran ausrichtet, ob er praktisch nützlich ist, oder nicht.
Man kann diese Interaktion als Doppelspirale sehen – oder als Zwei-Kreis-Modell. In Spirale A (strukturelles Chunking) entstehen wiederkehrende Muster, sogenannte „Chunks“. Diese werden stabilisiert und wie Black Boxes verwendet. In Spirale B (zeitliches Chunking) gibt es Phasen, Zyklen sowie Reviews und Krisen. Strukturen werden neu bewertet, angepasst oder neu gebildet. So entsteht eine fortlaufende Schleife: Zwingt ein zeitlicher Zyklus uns, genauer hinzusehen, kommt es zu Änderungen in der Struktur. Etabliert sich eine neue Struktur, prägt sie die nächsten zeitlichen Zyklen.
