Ordnung als Auswahl und Ausschluss – zweite philosophische Nachbetrachtung

Überlegungen von Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht: Struktur und Ausschluss, übertragen auf das PKRN

Ordnung im Zwielicht

Ordnungen entstehen durch kommunikative Strukturen. Sie sind dynamisch und nie vollständig, weil das, was sie Ausgrenzen einen Einfluss ausübt.

Ähnlichkeiten und Unterschiede der Modelle

Unvollständigkeit und Prozesshaftigkeit von Ordnungen sind Bestandteil beider Modelle. Der Hinweis auf Macht und Grenzerfahrung von Waldenfels bestimmt eine kulturelle Komponente.

Auswirkungen auf das Controlling

Einfluss auf das Controlling, das in seiner Rolle selbst zur Stabilisierung von Strukturen beiträgt.

Das Wissen, dass jede Ordnung etwas ausschließt, kann Controlling zu einem dynamischen und lernfähigen Werkzeug machen.

Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht

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In diesem Aufsatz beschreibe ich, wie Ordnungen entstehen, indem Akteure kommunikative Strukturen um eine Sinnunterstellung herum bilden. Sie sind emergent in dem Sinne, dass sie im Gebrauch entstehen und sich durch Gebrauch stabilisieren. Dabei greifen begrifflich-räumlich und zeitlich strukturierende Mechanismen ineinander. Die Repräsentation von Wissen in Strukturen findet in der Kommunikation in sozialen, semantischen und semiotischen Netzwerken statt. Die Strukturen, diese Ordnung ist zum Teil stabil, aber sie kann auch sehr dynamisch sein.

Bernhard Waldenfels[1] sieht Ordnung ebenfalls nicht als etwas Festes, sondern als ein dynamisches Gebilde. Es entsteht stets neu – aber es vergeht auch wieder. In seinem Buch „Ordnung im Zwielicht“ erklärt er, dass jede Ordnung auf Auswahl sowie Ausgrenzung basiert. Was man als wichtig erachtet, sticht erst hervor, wenn anderes unbeachtet bleibt. Es handelt sich dabei nicht nur um eine rationale Entscheidung, sondern auch um einen Akt der Macht. Diese „Positivität“ setzt sich durch, ohne dass man sie komplett auf übergeordnete Gründe zurückführen könnte.

Dieses Auswählen sowie Ausblenden lässt nach Waldenfels immer etwas Fremdes oder Abweichendes zurück. Es lauert am Rand und stellt die Ordnung in Frage. Waldenfels betont: Keine Ordnung ist vollständig. Sie wird starr, wenn sie ihre Grenzen und das Ausgeschlossene nicht mehr erkennt. Doch sie kann sich erneuern, wenn Auffälligkeiten deutlich werden und das, was eingeschlossen war, anders bewertet wird. Hier entsteht ein „Zwielicht“ – Ordnungen geben einerseits Sicherheit, verweisen andererseits aber immer auf ihre Zerbrechlichkeit. In diesem Ablauf vermischen sich Regeln und Tatsachen, Einfluss und Zufall. Also werden die Entwicklung und die Veränderung der Ordnungen zu einem dauerhaften Geschehen – offen für Brüche, Anpassungen sowie eine Verlagerung des bisher Ausgegrenzten in den Mittelpunkt.


[1] Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, München 2013

Ähnlichkeiten und Unterschiede der Modelle

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Beide Ansätze – das hier entwickelte Modell der PKRN und die Vorstellung von Bernhard Waldenfels – befassen sich damit, wie ein System mit Komplexität umgeht. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Akteure in Netzwerken oder um kulturelle Ordnungen handelt. Es geht lediglich darum, Bedeutung zu schaffen sowie zu festigen – allerdings immer durch Auswahl sowie Ausblendung. Hier einige wichtige Ähnlichkeiten sowie ihre philosophische Bedeutung:

Unabschließbarkeit und Prozesshaftigkeit: Waldenfels argumentiert, dass keine Ordnung jemals vollständig festgeschrieben werden kann. Stattdessen befinden sich Ordnungen immer in einem Übergangszustand, wo neue Sinnansprüche entstehen. Auch das PKRN betont diese Unvollständigkeit. Eine Firma, eine Gruppe oder ein Denkprozess kann seine Strukturen nie ganz abschließen. Es gibt immer neue Impulse, auf die reagiert wird – zumindest, wenn sie stark genug stören. Im zeitlichen Chunking steckt der Wechsel zwischen Beständigkeit sowie Anpassung.

Emergenz durch Selektion und Exklusion: Struktur entsteht im PKRN, weil Akteure aus der Fülle möglicher Signale wählen. Diese Wahl führt zu stabilen Einheiten oder Gruppen. Auch Bernhard Waldenfels hebt hervor: Ordnung ist nie vollständig und rein rational. Sie entsteht vielmehr durch Auswahl sowie Ausschluss. In jeder Ordnung steckt also ein Moment des Ausblendens. Man schafft Normalität, indem man Anderes an den Rand schiebt oder es einfach ignoriert. So entsteht ein Ganzes, das aber stets das Nicht-Aufgenommene in sich trägt. Das Nicht-Aufgenommene ist etwas potenziell Störendes oder etwas, das später einbezogen werden könnte.

„Chunking“ als Bildung lokaler Geltungsräume: Wir beschreiben die Entstehung lokaler Stabilitäten, genannt Solitonen oder Chunks, in Netzwerken als einen emergenten Prozess. Das bedeutet für Waldenfels, dass jede Ordnung unterschiedlich entsteht – sie lässt sich nicht vereinheitlichen. Das passt auch zur Small-World-Idee: In Clustern festigt sich eine Bedeutung schnell, während in anderen Clustern ganz andere Interpretationen üblich sind. Waldenfels betont, dass eine Ordnung sich nur in begrenzten Bereichen durchsetzt – somit kann sie neben anderen Ordnungen bestehen, ohne mit ihnen vereinbar zu sein.

Pragmatischer „Sinnstopp“ und das Moment der Positivität: Wir beziehen uns wie oben gezeigt auf Josef Simon oder Alain Badiou und sagen, dass die Interpretation aufhört, wenn etwas praktisch funktioniert. Waldenfels hält es eher mit Heidegger – er betont, dass Ordnung zwar da ist, aber ohne, dass es dafür ausreichende Gründe gibt. Es entsteht ein „Moment grundloser Positivität“. Das bedeutet: Keine Ordnung lässt sich komplett mit Vernunft erklären, sondern sie setzt sich einfach durch. In unserer Sprache ist das der Punkt, an dem sich ein Chunk bewährt – man fragt nicht mehr nach dem „Warum“, sondern es ist gut genug zum Handeln.

Strukturelles und zeitliches Chunking vs. Normativität und Anomalien: Die PKRN hebt die Verbindung zwischen räumlicher und zeitlicher Strukturierung hervor. Strukturen entstehen, stabilisieren sich – doch ab einem bestimmten Punkt ist ein Wandel möglich, wenn sich Besonderheiten oder Irritationen anhäufen. Waldenfels argumentiert ähnlich in „Ordnung im Zwielicht“. Wenn Übergangsereignisse, Unregelmäßigkeiten oder Besonderheiten zunehmen, entsteht an einem kritischen Punkt eine Instabilität. Diese kann zur Neugestaltung oder Vermischung von Ordnungen führen. Keine Ordnung ist absolut festgelegt – sie kann sich verhärten, aber auch zusammenbrechen, wenn Fremdes oder Abweichendes eindringt. Das geschieht etwa durch Krisen, Irritationen oder veränderte Machtverhältnisse.

Macht und Grenzerfahrungen: Ein wichtiger Punkt bei Waldenfels ist Macht. Er sagt, dass eine Ordnung sich durchsetzt – sie grenzt andere Möglichkeiten aus. Wer also die Ordnung festlegt, bestimmt auch, was als Abweichung gilt. Dieser Gedanke klingt in unserem Netzwerkmodell ebenfalls an. Es geht um die Frage, welche Knoten als „Gatekeeper“ agieren. Oder wie bestimmte Paradigmen beziehungsweise Übersetzungen im Netzwerk einflussreicher als andere werden. Hier gibt es eine Ähnlichkeit: Was zum unhinterfragten „Chunk“ wird, ist selten neutral. Vielmehr hängt es mit Macht sowie Bewertungen zusammen.

Modell-Ergänzung um Phänomenologie und Kultur

Das PRKN erklärt vor allem, wie Ordnung praktisch entsteht. Es zeigt, wie Akteure aus vielen Signalen auswählen und Routinen entwickeln. Erst bei zu vielen Problemen ändern sie diese Routinen – ganz ähnlich wie Thomas S. Kuhn es beschreibt. Waldenfels‘ Buch „Ordnung im Zwielicht“ ergänzt eine phänomenologische sowie kulturphilosophische Sichtweise. Ordnung entsteht immer dort, wo es eine Spannung gibt. Diese Spannung besteht zwischen dem, was aktiv festgelegt wurde – etwa durch Macht, Auswahl oder festen Sinn – und dem, was ausgeschlossen oder als chaotisch gesehen wird. Die beiden Ansätze sind sich ähnlich: Nichts lässt sich allein mit einer übergeordneten Logik erklären. Vielmehr bestimmen der praktische Nutzen, gefestigte Gewohnheiten als auch Macht, was letztlich akzeptiert wird.

Waldenfels ergänzt den Ansatz des PKRN folglich mit einer Art zweiter Ebene. Es beschreibt, wie Handelnde Sinn auswählen und Strukturen sich festigen. Doch Waldenfels betont, dass diese Auswahl selten nur auf rationalem Nutzen beruht. Vielmehr ist sie gleichzeitig ein Ausschluss sowie eine „grundlose Positivität“. Anders formuliert: Ordnung entsteht. Sie bringt immer schon Ausgeschlossene hervor – an diesen kann sie wiederum wachsen, scheitern oder sich erneuern. Das passt gut zu dem Ergebnis des PKRN, dass jede Stabilisierung das Potenzial für Irritationen birgt. Seine systemisch-kategoriale Einteilung sowie Waldenfels‘ Phänomenologie der Ordnung ergeben zusammen ein Bild, in dem sich Dynamik, Stabilisierung und Störung stets gegenseitig bedingen.

Im PKRN wird klar, wie sich Strukturen in Netzwerken bilden. Gleichzeitig fragt man sich, wie sie zugleich fest und zerbrechlich sind. Praktikabilität sowie Macht spielen bei der Antwort auf diese Frage eine Rolle. Waldenfels würde ergänzen, dass keine noch so gut „gechunkte“ Ordnung absolute Gültigkeit für sich beanspruchen darf – sie ist immer unklar, im „Zwielicht“. Ihre Gültigkeit hängt davon ab, was sie ausschließt und was sie (vorerst) einbinden konnte.

Die Ordnung der Ordnung: Auswirkungen auf das Controlling

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Ordnung konstituiert sich also immer schon am Ausschluss bestimmter Elemente oder Perspektiven. Das hat einen Einfluss auf das Controlling, das in seiner Rolle ja selbst zur Stabilisierung von Strukturen beiträgt. Controlling sollte im eigenen Vorgehen bewusst auf mögliche „blinde Flecken“ und Randphänomene achten. Aus der Sicht von „Ordnung im Zwielicht“ von Bernhard Waldenfels ergibt sich dabei: 

Bewusste Randbeobachtung („Peripheral Monitoring“):

Controlling konzentriert sich normalerweise auf bekannte Kennzahlen, Abläufe sowie Ziele. Aber es ist gut, systematisch auf „Ausgeschlossenes“ zu achten. Das können vernachlässigte Daten, besondere Kundenkontakte, Warnzeichen für Krisen oder Informationen aus Gesprächen sein. Oft zeigen diese Dinge frühzeitig, wo Probleme entstehen oder jemand unzufrieden ist.

Sensible Gestaltung von Metriken:

Controlling-Kennzahlen sind eine Auswahl. Was nicht gemessen wird, gerät leicht in Vergessenheit. Ein bewusster Umgang damit bedeutet, dass man gelegentlich neue, zusätzliche Kennzahlen testet, um unbekannte Aspekte zu erkennen. Es bedeutet auch, nicht nur im Nachhinein zu messen. Stattdessen hilft es, vorausschauend zu denken und neue Entwicklungen mit Szenarien oder Datenanalysen zu erkennen. In interdisziplinären Gruppen kann diskutiert werden welches Potenzial oder Problem möglicherweise übersehen wird.

Hinterfragen der eigenen Routinen:

Controlling ist ein System, das Modelle erstellt und das Geschehen im Betrieb beobachtet und bewertet. Allerdings besteht die Gefahr festgefahrener Ansichten. Eine regelmäßige Überprüfung der Annahmen und des Selbstverständnisses ist darum hilfreich.

  • Welche Unternehmensziele und welcher Unternehmenszweck werden durch die eingesetzten Methoden implizit vorausgesetzt?
  • Welche Interessengruppen sind in den Kontrollprozessen kaum vertreten und könnten dadurch ausgeschlossen werden (z. B. externe Partner, Kundensegmente, Mitarbeitende mit abweichenden Meinungen, gesellschaftliche Auswirkungen)?
  • Wie verhält sich das Controlling, wenn Daten von den erwarteten Werten abweichen?

Integration und Irritation, abweichende Meinungen:

Waldenfels sagt, dass sich Ordnungen verändern oder versagen, sobald man Ausgeschlossenes nicht länger ignorieren kann. Damit diese Veränderung nicht erst in einer großen Krise passiert, kann sich das Controlling absichtlich Störungen ins System holen. Zum Beispiel durch kritische Analysen oder Audits, in denen ungewöhnliche Perspektiven erlaubt sind. Es gibt auch „Early-Warning“-Prozesse, die nicht nur numerisch messen, wenn etwas vom Normalen abweicht. Solche Prozesse diskutieren diese Abweichungen auch inhaltlich. Oder das Controlling richtet formelle Gesprächsrunden ein, in denen Minderheitsmeinungen oder abweichende Interpretationen von Zahlen ausdrücklich Platz erhalten.

Anerkennen der Macht-Dimension:

Bei Waldenfels liegt in jeder Ordnung ein Moment der „grundlosen Positivität“ und zugleich der Durchsetzungsmacht: Man legt fest, was wichtig ist. Gerade das Controlling hat viel Einfluss auf die Interpretation, weil Kennzahlen oft objektiv wirken. Darum sollte das Controlling deutlich machen, weshalb bestimmte Kennzahlen bedeutend sind und wer ihre Auswahl bestimmt: „Konzentriere dich nicht einzig auf die Zahlen, sondern auch darauf, wie sie zustande kamen und wer involviert war.“ Eine Kennzahl definiert, aus welcher Perspektive etwas als Erfolg gilt. Controller können dem etwas entgegensetzen, indem sie aktiv Verbindungen zwischen verschiedenen Abteilungen aufbauen, also mit Marketing, Personal, IT, und Produktion. Haben diese Bereiche eine Stimme, wenn Kennzahlen sowie Budgets neu festgelegt werden?

Dynamik fördern – Erneuerung als Teil der Controlling-Kultur:

Das PKRN beschreibt, wie sich Paradigmen verändern, wenn es mehr Unstimmigkeiten gibt. Das Controlling kann in der Veränderung eine konstruktiv-dynamische Rolle einnehmen: Es führt Pilotprojekte oder agile Formate ein. In diesen Formaten bleiben Controlling-Mechanismen absichtlich flexibler. Feedback über Abweichungen werden nicht nur als Fehler – sondern als Hinweis auf vernachlässigte Faktoren behandelt. Unternehmen benötigen stabile Strukturen. Gleichzeitig müssen sie offenbleiben, damit wichtige Themen, Sichtweisen oder Informationen nicht übersehen werden. Ein Controlling berücksichtigt dieses Spannungsverhältnis, damit es seine Aufgabe als aktiver Beobachter erfüllen kann.

Das Wissen, dass jede Ordnung – und damit jedes Steuerungssystem – etwas ausschließt, kann Controlling zu einem dynamischen und lernfähigen Werkzeug machen. In diesem Fall schafft es bewusst Prozesse, bei denen scheinbar unwichtige Aspekte, Störungen oder andere Meinungen gehört sowie einbezogen werden. Dadurch beugt es nicht nur Krisen vor, sondern setzt die eigene Deutungsmacht verantwortungsvoll ein. Richtig implementiert behält das Controlling die Grenzen des Systems im Auge und passt diese bei Bedarf an.