Die Verantwortung zur Rationalität

In der Tätigkeit des Unternehmers stecken eine Grenzüberschreitung und die Spekulation auf Rationalität. Er begeht die Grenzüberschreitung um Neues zu schaffen und es Bekanntem hinzuzufügen. Rationalität sichert dabei den Anschluss des Neuen bei seiner Rückkehr nach der Überschreitung. Seine Rationalität ist aber haltlos, weil sie den Anschluss nicht absichern kann.

Wir beschreiben diese Notlage im Vergleich mit Jean-Paul Sartres existenzialistischen Konzept der Freiheit.

Entscheidung unter Unsicherheit

Fiktion der Realität

In existenzieller Not der Freiheit

Sartres Existenzialismus

Jean-Paul Sartre beschreibt mit seinem Begriff des Existenzialismus den Menschen als ein Wesen, das zur radikalen Freiheit verurteilt ist [1]. Freiheit bedeuten hier, dass es keine vorgegebene Bedeutung oder höhere Instanz gibt, die den Lebenssinn definiert. Der Mensch ist mithin gezwungen, seinen Sinn selbst zu schaffen, indem er sich für Werte, Ziele und Handlungen entscheidet. Sartre beschreibt diesen Akt der Selbsterschaffung als „Entwurf“. Der Mensch entwirft sich, indem er seine Entscheidungen trifft, die ihn wiederum definieren. Die Kehrseite dieser Freiheit ist die existenzielle Not: Ohne absolute Gewissheit lastet die Verantwortung für jede Entscheidung vollständig auf dem Individuum [FP1].

Ohne Gewissheit und damit auch ohne absolute Werte bleibt es nach Sartre dem Menschen überlassen, Werte durch seine Entscheidungen zu schaffen. Mit dieser radikalen Freiheit entsteht Verantwortung aus der Unausweichlichkeit zu entscheiden. Selbst die Entscheidung, nicht zu entscheiden, ist eine Form der Entscheidung. Da der Mensch sich selbst und die Welt durch seine Entscheidungen formt, trägt er die volle Verantwortung: Er verantwortet seine Existenz und die Art von Welt, die er durch sein Handeln mitgestaltet [2]. Verantwortung ist daher sowohl eine Verpflichtung gegenüber sich selbst (authentisch zu leben) als auch gegenüber anderen (deren Freiheit anzuerkennen und zu respektieren).


Erläuterungen

[1] Siehe z.B. Sartre 1943, S. 950 (S. 639 der französischen Originalausgabe): „Die wesentliche Konsequenz unserer vorangegangenen Ausführungen ist, dass der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich.“ Siehe ebenfalls Recherche im Anhang Sartres Existenzialismus.

[2] Siehe auch Recherche im Anhang Woher kommt die Verantwortung (nach Sartre)?.

[FP1] In einem sozialen System erfordern Entscheidungen wegen dieser Verantwortung eine Begründung, die kaum anders als rational d.h. nachvollziehbar gegenüber den Anderen erfolgen kann.

Die Ökonomie befindet sich in der selben Notlage der Entscheidung

Die neoklassische Ökonomie operiert ähnlich mit dem Modell des „homo oeconomicus“. Es ist das Modell eines rational handelnden Akteurs, der Entscheidungen trifft, um seinen Nutzen zu maximieren [1]. Dabei nimmt es an, dass Individuen über klare Präferenzen verfügen, alle relevanten Informationen verarbeiten und stets die für sie optimale Wahl treffen. Interessant ist, dass dieses Modell eine Parallele zu Sartres Entwurfsidee aufweist: Sie denkt den rationalen Akteur ebenfalls als autonomes Subjekt, das frei ist, aus den gegebenen Alternativen zu wählen. Seine Freiheit besteht in der ökonomischen Wahlentscheidung. Verantwortung für seine Wahl übernimmt er, indem er seine Entscheidung nachvollziehbar begründet. Die Nachvollziehbarkeit erfordert es, Begründungen in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, der den klassischen Vorstellungen von Rationalität entspricht. Weil die Vorstellung von kausalen Zusammenhängen aber auf einer Spekulation beruht, konstruiert der wirtschaftende Akteur seine Welt durch seine Entscheidungen, indem er sich über sich selbst hinaus entwirft [FP1].

In beiden Denksystemen – Sartres Philosophie und der neoklassischen Ökonomie – steht der Mensch also vor einer fundamentalen Herausforderung. Er muss Entscheidungen treffen, obwohl er nie vollständige Informationen hat.


Erläuterungen

[1] Priddat 2014, „Die Entscheidungen, die so generiert werden, sind Verwirklichungserzählungen, die als ‚Realität’ behandelt werden. Der Übergang von der Möglichkeitserzählung in die Wirklichkeitserzählung ist der Übergang von unbestimmten Möglichkeiten in eine selegierte Möglichkeit, deren spätere Realität damit nicht entscheiden ist (vgl. die Markt I / Markt II-Differenz). Eindeutig ist damit aber die Realität der Entscheidung als Entscheidung entschieden, d.h. der Marktanschluß effektiv gesichert. Was dann daraus als tatsächliches Ereignis entsteht, bleibt der Konstellation des späteren Marktes (II) übereignet.“,

und in der Fußnote 2: „Ist dieser Dezisionismus letztlich existentialistisch zu deuten? So in der Sartre’schen Version: Der Mensch entdeckt sich in seinem Entwurf, er überschreitet sich, indem er sich auf etwas hin entwirft. Die Wirklichkeit gibt es nur in dieser Tat (ich verdanke die Anregung zu dieser Überlegung Jacob Dahl Rendtorff, dem dänischen Philosophen aus Roskilde). Aber das wäre eine eigene Erzählung: inwieweit die modern economics – mit ihrer Insistenz auf dem singulären rational actor, der alle Informationen in seiner Wahlentscheidung verarbeitet, obwohl es offensichtlich ist, dass er nicht alle Informationen verarbeiten kann – den rational man als existentialistische Figur einführt, die in ihrer Entscheidung – anderes ausblendend – sich selbst als eigenen Entwurf verwirklicht, der ihre Existenz ist.“

[FP1] Die Idee stammt von Birger P. Priddat und wird in seinem Diskussionspapier „Entscheidung als zeitliche Setzung. Über Narration, Fiktion, Erwartung und Zeitlichkeit in der Ökonomie“, Witten/Herdecke 2014

Unternehmen Grenzüberschreitung und Spekulation auf Rationalität

Nach der Darstellung von Dirk Baecker („Die Form des Unternehmens“) begeht der Unternehmer mit der Einführung einer neuen Geschäftsidee eine Grenzüberschreitung. Er tut das, indem er auf die Möglichkeit von Rationalität spekuliert [1]: Er hält etwas für möglich, was andere nicht erkennen. Seine Rationalität ist haltlos, denn sie findet ihren Halt nur in sich selbst. Wirtschaftlich handelnden Individuen bleibt deshalb keine andere Wahl, als Rationalität zu unterstellen. Ohne die Unterstellung von Rationalität würde ihr Handeln in Unsicherheit kollabieren. Rationalität bietet damit die entscheidende Orientierung und ein Modell, um Entscheidungen überhaupt treffen zu können. Wie bei Sartre konstruieren wirtschaftliche Akteure durch ihre Entscheidungen ihre Wirklichkeit. Diese Konstruktion bedarf einer Grundlage, die durch die Annahme von Rationalität vorgegeben wird. Sie ist eine Art Ersatz für die fehlende objektiv vorhersagbare zukünftige Gegenwart.


Erläuterungen

[1] Dirk Baeckers Argumentation kann so interpretiert werden, dass der Unternehmer Verantwortung übernimmt, indem er rational handelt. Dabei wird Rationalität nicht als reine Zweckrationalität verstanden, sondern als eine reflexive Praxis, die sowohl die eigenen Entscheidungen als auch deren Konsequenzen berücksichtigt. Ähnlich wie bei Sartre ist der Unternehmer ein Akteur, der Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig die Verantwortung für die durch seine Entscheidungen geschaffenen Möglichkeiten und Grenzen trägt.
In der Recherche im Anhang greife ich die Argumentation mit konkreten Zitaten aus dem Buch von Dirk Baecker auf Zitate von Dirk Baecker (Die Form des Unternehmens).

Die Selbsttäuschung

Die Rationalitätsannahme erlaubt es nun, Handlungen und ihre Konsequenzen in der ökonomischen Theorie zu modellieren und zu prognostizieren. Sartres Konzept der „mauvaise foi“ (Selbsttäuschung) findet hier eine Parallele: Indem Akteure Rationalität unterstellen, umgehen sie die existenzielle Angst vor der Ungewissheit [1]. Rationalität bietet eine scheinbare Sicherheit und Legitimation für getroffene Entscheidungen.

Der Begriff der Selbsttäuschung beschreibt Sartres Konzept allerdings nicht ganz vollständig. Es geht nämlich um eine spezifische Form des Selbstbetrugs. Durch sie versuchen Menschen, der Last ihrer radikalen Freiheit und Verantwortung zu entkommen. In dieser Situation macht nach Sartre der Mensch sich selbst und anderen vor, nicht frei zu sein. Dies geschieht durch eine Art Verleugnung seiner Freiheit und durch das Festhalten an Rollen, gesellschaftlichen Erwartungen oder vorgegebenen Strukturen. Pragmatisch gewendet, könnte diese Verleugnung jedoch auch notwendig sein, um im Moment der Entscheidung überhaupt handlungsfähig zu sein. Die Selbsttäuschung ist in dieser Form eine Strategie zur Komplexitätsreduktion und funktional begründet[2].


Erläuterungen

[1] Menschen greifen auf mauvaise foi zurück, weil die Freiheit, die Sartre als zentral für das Menschsein begreift, auch Angst (angoisse) und Unsicherheit mit sich bringt. Diese existenzielle Angst entsteht aus dem Bewusstsein, dass es keine vorgegebenen Werte oder Sicherheiten gibt und dass jede Entscheidung völlig frei und damit vollständig in der eigenen Verantwortung liegt. Um diese Angst zu vermeiden, fliehen Menschen in vorgegebene Strukturen, Rollen oder Ideologien, die ihnen Sicherheit vorgaukeln. Beispiele sind die Verleugnung der Freiheit in sozialen Rollen, das Beharren auf Determinismus und Selbsttäuschung in Beziehungen. Weitere Erläuterungen in der Recherche im Anhang Der Selbstbetrug.

[2] Selbsttäuschung kann als notwendiger Schritt entschuldigt werden, wenn sie funktional und zeitlich begrenzt ist. Sie ermöglicht Entscheidungen und Stabilität in einer Welt, die von Unsicherheit geprägt ist. Die Verbindung zu Luhmanns Konzept der Asymmetrisierung zeigt, dass solche Festlegungen – ob individuell oder systemisch – unverzichtbar sind, um handlungsfähig zu bleiben. Entscheidend ist jedoch, dass die Selbsttäuschung in einem Reflexionsprozess aufgelöst wird, wodurch sie in einen authentischen Umgang mit der eigenen Freiheit münden kann. Weitere Erläuterungen in der Recherche im Anhang Rechtfertigung des Selbstbetrugs.

Die Illusion einer objektiven Realität als Schutzschild gegen Unsicherheit

Die Übertragung von Sartres existenzialistischem Konzept auf die neoklassische Ökonomie zeigt, dass beide Systeme letztlich eine ähnliche Spannung adressieren. Die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine Verpflichtung. In beiden Fällen ist der Mensch verpflichtet, seine Welt zu entwerfen – sei es existenziell oder ökonomisch. Die Illusion einer objektiven Realität dient dabei als Schutzschild gegen die Überforderung durch Unsicherheit. Unsere Vorstellungen von Freiheit, Verantwortung und Rationalität sind dadurch eng miteinander verknüpft.

Unternehmerisches Handeln kann so als eine Form existenzieller Freiheit verstanden werden. Entscheidungen, Grenzüberschreitungen und die Spekulation auf Rationalität prägen diese Freiheit. Rationalität, Kultur und Vertrauen dienen als Werkzeuge, um in der „existenziellen Not der Freiheit“ handlungsfähig zu bleiben. Sie können jedoch diese Not  nicht vollständig aufzulösen.

Durch Reflexion läuft der Entwurf auf Authentizität hinaus

Aber, fassen wir das Argument noch einmal zusammen. Als wirtschaftlicher Akteur ist der Unternehmer jemand, der eine Grenze überschreitet. Er spekuliert dabei auf eine Rationalität, die andere nicht oder noch nicht erkennen können. Rationalität ist deshalb für ihn die Formel, die seine Entscheidungen absichern muss. Und zwar genau in dem Moment, in dem die „schöpferische Zerstörung“ seines Tuns offensichtlich wird. 

Aus Sartres Konzept der existenziellen Freiheit übertragen heißt das folgendes: Wir können die Verantwortung der unternehmerischen Entscheidung nicht aus ihrem Inhalt, sondern nur aus ihrer Form ableiten. Ihr Inhalt ist eine Spekulation. Aber die Form ist stabil als eine Verpflichtung gegenüber der Rationalität.

Es ist ihrer Funktion als Entwurf geschuldet, dass diese Rationalität spekulativ ist. Die darin enthaltene Selbsttäuschung rechtfertigen wir, solange sie temporär und pragmatisch ist. Eine spätere Reflexion und eine daraus folgende mögliche Korrektur heben die nachteiligen Folgen der Täuschung wieder auf.

In der Reflexion nach der Entscheidung kann der Akteur anerkennen, dass er sich auf eine bestimmte Perspektive eingelassen hat. Aus dieser Perspektive heraus schöpft er die vollständige Offenheit der Freiheit nicht aus. Die Reflexion erlaubt aber eine Neubewertung, gegebenenfalls eine Anpassung der Perspektive und damit des eigenen Entwurfs. Dadurch betten wir „mauvaise foi“ in einen Prozess ein, der letztlich auf Authentizität hinausläuft.

Unsere Argumente verpflichten Fiktionen in der Wirtschaft zur Rationalität

Damit [FP1] kommen wir zurück zur Fiktion und ihrer Rolle als Werkzeug zur Orientierung in einer unsicheren Welt. Wir werden uns ansehen, wie sie zu einer Ordnung verhilft, in der wir uns orientieren können. Wir werden aber auch sehen, dass sie sich der gleichen Kritik ausliefert, wie die ökonomischen Modelle. Deshalb verpflichten wir sie auf ein Rationalitätsversprechen. Die Verpflichtung leiten wir aus der Verantwortung ab, die dem wirtschaftenden Akteur aus seiner Freiheit erwächst. Die Fiktion ist damit nicht mehr beliebig, sie sollte eine plausible und wahrscheinliche Realität abbilden. Wir beziehen uns mit unserer Darstellung auf das Buch „Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität“ von Elena Esposito.


Erläuterungen

[FP1]Nach Dirk Baecker ist es gerade die Spekulation auf Rationalität, die den Unternehmer ausmacht. Das ist hier genau der Punkt: Verantwortung bedeutet Rationalität im wirtschaftlichen Handeln.