Das Sonnenschein–Mantel–Debreu-Theorem
Ein Beispiel für ein Modell, das eine Übersetzung zwischen der Mikro- und Makro-Ebene der Ökonomie behandelt. Das Netzwerkmodell der Wirtschaft hilft bei der Erklärung der Beobachtungen.
Das Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem
Das Modell zeigt die Grenzen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie: Die Summe individuellen Verhaltens ist nicht das Verhalten der Summe der Individuen.
Die Netzwerk-Perspektive
Die Anwendung des Netzwerkmodells verschiebt den Fokus von statisch nach dynamisch vernetzt. Es geht nicht mehr um Gleichgewichte sondern um emergente Intelligenz.
Wie Markt-Umbrüche entstehen
Die Beobachtungen von Thomas S. Kuhn über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen lässt sich auf das Netzwerk der Wirtschaft übertragen. Umbrüche werden durch Eigenschaften von Solitonen erzeugt.
Synthese der Perspektiven
Unsere Erklärung von Marktumbrüchen im Vergleich mit neueren Modellen.
Die Rational Beliefs Theory
Die Vorstellungen einzelner Marktteilnehmer unterscheiden sich, weil sie andere Informationen und Überzeugungen haben.
Die Behavioral Finance Theory
Verhaltens- und Denkfehler führen zu ineffizienten und unvorhersehbaren Preisbewegungen.
Modell-Vergleich
Die Modelle können sich jeweils ergänzen: Marktteilnehmer kommen wegen der Verarbeitung von Informationen in Netzwerken zu unterschiedlichen Vorstellungen. Abweichungen und Unterschiede sind nicht nur Fehler, sondern unvermeidlich.
Zusammenfassung und Fazit
Vereinfachungen und kontingente Deutungsrahmen sind notwendige Voraussetzungen zur Verarbeitung von Informationen. Vorstellungen der Marktteilnehmer beeinflussen sich dabei gegenseitig. Fehler treten auf. Die Modelle widersprechen sich insofern nicht.
Das SMD-Theorem
Ein Beispiel für Ökonomische Modelle, die Schwierigkeiten haben, Vorhersagen aus der Makroebene nicht aus dem Verhalten der Mikroebene ableiten zu können ist das sogenannte Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem. Es wurde in den 1970er Jahren von Hugo Sonnenschein, Rolf Mantel und Gérard Debreu entwickelt und untersucht, wie sich individuelle Nachfragefunktionen auf aggregierter Ebene verhalten.
Das Theorem besagt grob, dass selbst wenn Individuen einfache und gut definierte Präferenzen haben, dann können die sich daraus ergebenden Markt-Nachfragefunktionen auf aggregierter Ebene praktisch jede beliebige Form annehmen. Anders gesagt: Aus dem individuell plausiblen Mikroverhalten lässt sich keine eindeutige Vorhersage über die Preis- oder Mengenentwicklung auf der Makroebene ableiten.
Im Kern nimmt das Theorem an, dass jedes Individuum üblicherweise gut definierte Präferenzen hat, die zu stetigen, monotonen budgetbeschränkenden Nachfragefunktionen führen. Aggregiert man diese Nachfragefunktionen zu einer Gesamtnachfragefunktion (z.B. für einen Markt), so könnte man erwarten, dass diese Gesamtnachfrage „vernünftig“ ist, also sich ähnlich wie die individuellen Funktionen verhält. Das Theorem zeigt jedoch, dass die aggregierte Nachfragefunktion fast jede mathematisch mögliche Form annehmen kann, selbst wenn die individuellen Präferenzen wohlgeordnet und „vernünftig“ sind[1].
Grenzen der allgemeinen Gleichgewichtstheorie
Dies verdeutlicht, dass die „Summe“ individuellen Verhaltens nicht einfach linear auf ein stabiles Gesamtverhalten hochgerechnet werden kann, sondern dass emergente Effekte auftreten, die makroökonomische Prognosen erschweren. Konkret bedeutet dies: Auf der Makroebene können Eigenschaften wie Stabilität oder Eindeutigkeit des Marktgleichgewichts aus der Annahme nicht garantiert werden. Diese Eigenschaft zeigt die Grenzen der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie.
Selbst, wenn einzelne Akteure sich also rational und vorhersagbar verhalten, kann das aggregierte Verhalten auf Marktebene chaotisch, nicht linear und schwer vorhersagbar sein. Das Theorem zeigt, dass die Annahme, dass Märkte immer zu einem stabilen und einzigartigen Gleichgewicht führen, unrealistisch ist.
[1] Details zur mathematischen Plausibilisierung finden sich in der Recherche im Anhang Mathematische Herleitung der Schlussfolgerung des Sonnenschein–Mantel–Debreu-Theorems.
Betrachtung aus der Netzwerk-Perspektive
Mit der Vorstellung, dass die Wirtschaft insgesamt oder einzelne kompliziertere Teilsysteme sich wie ein emergentes, intelligentes Netzwerk verhalten, lassen sich vielleicht Hinweise auf die Ursachen beobachtbaren Verhaltens finden.
Aus einer Netzwerk- oder KI-Perspektive betrachtet, kann man sagen, dass die Wirtschaft wie ein hochdimensionales, dynamisches Transformer-Netzwerk funktioniert: Millionen von „Knoten“ (Unternehmen, Haushalte, Institutionen etc.) interagieren miteinander und „berechnen“ laufend ihre Entscheidungen (Preise, Investitionen, Kooperationen usw.). Diese Sichtweise ergänzt oder transformiert das, was im Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem als Problem der Aggregation beschrieben wird.
Fokusverschiebung von statisch nach dynamisch vernetzt
Diese Netzwerk-Perspektive verschiebt den Fokus von statisch nach dynamisch, vernetzt, denn das Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem (SMD) ist in einem eher statischen Kontext der klassischen Gleichgewichtstheorie entstanden. Die neue Perspektive ergänzt das alte Bild um eine dynamische und hochgradig vernetzte Sicht: Wenn man Unternehmen als Knoten in einem neuronalen Netz begreift, passen sie ihre „Gewichte“ (Preise, Budgets, Produktionskapazitäten usw.) laufend an Signale (Marktreaktionen, Verhaltensänderungen anderer Knoten) an.
Nicht Gleichgewicht, sondern emergente Intelligenz
Die Nachfrage auf einem Markt findet jetzt nicht ein Gleichgewicht, sondern zu einer emergenten Intelligenz. Während das SMD-Theorem zeigt, dass aus mikroökonomischem Rationalverhalten keineswegs automatisch ein stabiles Makro-Gleichgewicht folgt, steht im Nerzwerkmodell die Emergenz im Vordergrund: Die „Intelligenz“ oder das Makroverhalten des Systems ergibt sich nicht aus einer einfachen Aufsummierung individueller Aktionen, sondern aus komplexen Rückkopplungsschleifen und Lerneffekten. Anders gesagt: Der Fokus verlagert sich von der Frage „Gibt es ein (eindeutiges) Gleichgewicht?“ hin zur Frage „Wie evolutioniert das System, welche Muster treten auf und wie stabil sind diese Muster in einer dynamischen Umgebung?“
Indem man die Wirtschaft als ein lernendes Netzwerk auffasst, rücken Feedback-Mechanismen, Pfadabhängigkeiten und historische Entwicklungen in den Vordergrund. Man untersucht z. B., wie bestimmte Interaktionsmuster stabil werden oder plötzlich kollabieren können. Das SMD-Theorem sagt, dass die Form der aggregierten Nachfrage grundsätzlich sehr flexibel ist. Ein neuronales Modell könnte aufzeigen, warum oder unter welchen Bedingungen sich in der Realität dennoch gewisse stabilere Strukturen herausbilden – oder warum sie in anderen Fällen gerade nicht stabil bleiben (z. B. Finanzkrisen, Blasen).
Damit verschiebt sich die Erklärung: Statt zu beweisen, dass Gleichgewichte nicht eindeutig herleitbar sind, kann ein „Transformer-Blick“ erklären, wie und wann bestimmte Gleichgewichtszustände (oder quasi-stabile Zustände) emergieren und wie sie sich in Krisenphasen auflösen. Wir sehen uns deshalb das Beispiel der Finanzkrisen und Blasenbildung noch einmal genauer an. Die Idee, dass Märkte als autopoietisch lernende Systeme agieren, lässt sich mit Thomas S. Kuhns Konzept der Paradigmen (und -wechsel) sowie dem Phänomen von Solitonen in sozialen Systemen zusammenbringen.
Anwendung auf Blasenbildung und Abrupte Umbrüche an Finanzmärkten
Thomas S. Kuhn beschreibt Paradigmen als grundlegende „Weltbilder“ oder „Denkmuster“, anhand derer eine wissenschaftliche Gemeinschaft Probleme definiert und löst. Solange das Paradigma trägt, findet „normale Wissenschaft“ statt, die Anomalien entweder ignoriert, „wegerklärt“ oder in das bestehende Denkmodell zu integrieren versucht.
Paradigmenwechsel in Märkten
Auch in Märkten (verstanden als autopoietische Kommunikationssysteme) existieren solche stabilen Deutungsrahmen. Diese könnten z.B. ein gängiges Geschäftsmodell, eine anerkannte Bewertung von Vermögenswerten, oder einfach etablierte Erwartungen an künftige Preisentwicklungen sein. In einer „normalen“ Marktphase wird das Paradigma – also die vorherrschende Interpretationsweise oder das aktuelle Bewertungsmodell – nicht grundsätzlich hinterfragt.
Neue Ereignisse, z.B. unverständliche Preisausschläge, unerwartete Marktentwicklungen, erzeugen Zweifel an der Tragfähigkeit des alten Deutungsmodells. Irgendwann kann das bisherige Modell die Realität nicht mehr ausreichend „erklären“. Es entsteht eine Krise, z.B. eine Preisblase platzt, und ein neues Paradigma setzt sich durch. So wie Kuhn einen wissenschaftlichen Umsturz beschreibt, kann man in Märkten von abrupten Korrekturen oder neu aufkommenden „Erzählungen“ (Narrativen) sprechen. Diese führen zu einem kollektiven Interpretationswechsel.
Erklärung der Vorgänge mit den Eigenschaften von Solitonen
Unsere Vorstellung von Solitonen und ihre Funktion bei der Informationsverarbeitung in sozialen Systemen kann uns bei der Erklärung der Vorgänge ein Stück weiterhelfen. Übertragen auf soziale oder ökonomische Systeme kann man Solitonen als stabile Muster oder robuste Deutungsstrukturen verstehen, die sich trotz einer Flut von Informationen nicht sofort auflösen. Sie „reisen“ durch das System, werden weitergegeben, transformieren sich teilweise, bleiben aber in ihrem Kern erkennbar.
Beispiele sind etwa erfolgreiche Geschäftsmodelle, anerkannte Bewertungsansätze oder dominante Narrationen wie z. B. dass „Tech-Aktien unverwundbar sind“. So ein interpretativer „Soliton“ (eine gängige Markteinschätzung) kann erstaunlich lange bestehen bleiben, selbst wenn es Gegenindikatoren gibt. Analog zu Kuhns Paradigmenwechsel kann das Soliton jedoch kollabieren oder sich radikal verändern, sobald zu viele „Störungen“ (Anomalien) auflaufen.
Notwendige Reduktion von Komplexität
Eine weitere Erklärung erhalten wir, wenn wir die Reduktion von Verarbeitungskomplexität und die autopoietische Arbeitsweise von Akteuren in Rechnung stellen. Ein Markt (oder ein soziales System) muss die enorme Komplexität der „Außenwelt“ reduzieren, um handlungsfähig zu bleiben. Akteure nutzen z. B. Preissignale, Prognosemodelle oder Narrative als vereinfachende „Linsen“, um die Wirklichkeit zu bewerten.
Die Autopoiesis erklärt hier die Entwicklung der Solitonen: Die Selbsterzählung der Akteure, die Solitonen[1] am Leben erhalten, hält so lange, bis die Abweichungen und Irritationen nicht mehr integriert werden können. Alte Solitonen verlieren ihre Bedeutung, neue entstehen. Die sich dabei entwickelnde Dynamik kann zu sprunghaften Neubewertungen führen, die wir in Märkten z.B. als Kurseinbrüche, Krisen oder ebenso als plötzliche Hausse erleben.
[1] Aus einer abstrakteren Perspektive kann man damit die Fortschreibung der Solitonen ebenfalls als einen autopoietischen Prozess verstehen. Er verwendet die Verhaltens- und Redebeiträge derjenigen Teilnehmer, die zum Fortbestehen der Solitone beitragen. Handlungen der Teilnehmer sind in Bezug zur Solitone auf Anschlusshandlungen des Grundverhaltens bzw. der Grundbeiträge bezogen.
Man kann den sich aus diesen Kommunikationen bildenden Körper nach Maurice Merleau-Ponty als eine Zwischenleiblichkeit bezeichnen. Sie bezeichnet ursprünglich die grundlegende Verbindung und wechselseitige Bezogenheit zwischen verschiedenen Körpern und Subjekten, die durch ihre leibliche Existenz miteinander kommunizieren.
Die Zwischenleiblichkeit beschreibt ein relationales Sein, in dem sich Wahrnehmung, Ausdruck und Bedeutung nicht isoliert im Einzelnen, sondern im gemeinsamen leiblichen Miteinander konstituieren. Nachdem sich die Formen der Kommunikation weiterentwickelt haben (Andreas Hepp und Uwe Hasenbrink kennen [Hepp 2013] neben der direkten Kommunikation z.B. noch reziproke Medienkommunikation, produzierte Medienkommunikation und virtualisierte Medienkommunikation), wäre eine Inhaltliche Überarbeitung dieser Bezeichnung allerdings angebracht.
Was erklärt die Synthese aus autopoietischer Auffassung ökonomischer Akteure mit den Paradigmenwechseln von Thomas S. Kuhn?
Das hier beschriebene Verhalten von Finanzmärkten ist gut beschrieben und es gibt Erklärungen dafür. Bei dem Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem handelt es sich um ein rational orientiertes klassisches Modell, das die Grenzen klassischer Gleichgewichtsmodelle zeigt. Selbst bei rational handelnden Individuen kann die aggregierte Marktnachfrage nahezu jede Form annehmen. Ich will deshalb hier auf zwei moderne Theorien eingehen, die sich speziell mit der Preisfindung auf Märkten befassen und die Annahmen vollständiger Information oder immer rational handelnder Akteure umgehen.
Rational Beliefs Theory
Die Rational Beliefs Theory erweitert die klassische Erwartungstheorie, indem sie die Vielfalt menschlicher Überzeugungen und deren Auswirkungen auf Märkte einbezieht. Sie zeigt, dass wirtschaftliche Instabilität und Unsicherheit nicht nur durch externe Schocks, sondern durch die Dynamik rationaler, aber unterschiedlicher Überzeugungen der Akteure verursacht werden können.
Die Kernpunkte der Theorie sind:
Begrenzte Rationalität in Überzeugungen: Traditionelle Modelle gehen davon aus, dass alle Akteure identische und „korrekte“ Erwartungen bilden, die auf vollständiger Information basiert. Mordecai Kurz[1] argumentiert, dass dies unrealistisch sei, weil es in komplexen Systemen keine eindeutige „wahre“ Wahrscheinlichkeitsverteilung für zukünftige Ereignisse gibt. Stattdessen entstehen rationale Überzeugung, die konsistent mit der verfügbaren Information, aber von Person zu Person unterschiedlich sind. Dementsprechend bilden Marktteilnehmer zwar rationale, aber unterschiedliche, subjektive Erwartungen.
In einer komplexen Wirtschaft entstehen kontinuierlich neue Informationen, die unterschiedliche Interpretationen zu lassen. Dies führt zu einer endogenen Unsicherheit, die durch das Verhalten der Akteure beeinflusst wird. Im Gegensatz zu den Modellen rationaler Erwartungen, die oft auf Stabilität und Gleichgewicht abzielen, zeigt die Rational Beliefs Theory, dass makroökonomische Schwankungen ein natürlicher Bestandteil von Märkten sind.
[1] In Kurz 1999
Behavioral Finance Theory
Behavioral Finance integriert psychologische Erkenntnisse in die Finanzwirtschaft und zeigt, dass systematische Verhaltens- und Denkfehler von Individuen zu ineffizienten, oft unvorhersehbaren Preisbewegungen führen können. Damit stellt sie einen Gegenpol zu traditionellen Theorien rationaler Erwartungen und Markt-Effizienz dar und bietet eine reichhaltige Grundlage, um Spekulationsblasen, Volatilität und andere Marktanomalien zu verstehen.
Ihre wichtigsten Ideen und Konzepte sind:
Menschen verfügen nur über begrenzte Informationsverarbeitungskapazitäten (begrenzte Rationalität) und neigen zu vereinfachenden Heuristiken (Daumenregeln), sie neigen zu verzerrten Urteilen (kognitive Verzerrungen) und neben rein kognitiven Faktoren spielen Emotionen wie Gier und Angst eine große Rolle. Die Fehleinschätzungen und Emotionen können Marktphasen wie Übertreibungen oder Panik erklären.
Zentrale Theorien und Konzepte sind die Prospect Theory (Kahnemann & Tversky), bei denen Menschen Gewinne und Verluste nicht symmetrisch bewerten, Heuristics and Biases wie Anchoring, Overconfidence, Representativeness und Herding Behavior.
Für die Marktdynamik folgt, dass Preise fundamental von ihrem gerechtfertigten Wert abweichen können, wenn Anleger in ihren Bewertungen systematischen Verzerrungen unterliegen. Emotionale und kognitive Verzerrungen können in euphorischen Phasen zu übertriebenem Optimismus führen (Blasenbildung). Genauso kommt es in Krisenphasen zu Panikverkäufen, wenn sich negative Erwartungen und Verlustangst verstärken.
Im Verhältnis zu klassischen Theorien, die von rationalen, perfekt informierten Marktteilnehmern ausgehen, widerspricht Behavioral Finance dieser Vorstellung und führt zahlreiche Befunde für Marktanomalien und systematische Fehler in menschlichem Verhalten an.
Vergleich und Synthese mit dem hier vorgestellten Modell (autopoietisch-kuhnsche Sicht)
Alle drei Modelle rücken von der Idee ab, dass Märkte rein deterministisch und stabil seien. Die Rational Beliefs Theory (RBT) führt als Gründe die unterschiedlichen Erwartungen an, die sich Marktteilnehmer aufgrund der für sie unterschiedlich verfügbaren Informationen bilden. Sie tun dies immerhin rational. Die Behavioral Finance Theory (BFT) dagegen unterstellt mit gutem Grund, dass es zu Fehleinschätzungen der Marktteilnehmer kommt. In beiden Theorien führen die unterschiedlichen Erwartungen zu kollektiven Marktphänomenen.
Verzerrungen sind notwendiger Bestandteil der Informationsverarbeitung
Die autopoietisch-kuhnsche Sicht (AKS) vertieft die Auffassungen der anderen beiden Modelle, indem sie zeigt, dass solche „Verzerrungen“ auf einer systematischen Logik beruhen: Märkte müssen Informationen in stabile Deutungsrahmen (Solitonen) pressen, um die Komplexität zu bewältigen. Sprunghafte Paradigmenwechsel, wie sie Thomas S. Kuhn in der Wissenschaft voraussagt, treten ein, wenn sich Anomalien häufen und das alte Deutungsmuster an Erklärungskraft verliert – dies kann dann, auch unter Berücksichtigung von Behavioral-Faktoren (Panik, Herdenverhalten), zu abrupter Marktinstabilität führen.
Zwischen allen drei Modellen gibt es keine grundsätzlichen Widersprüche. Sie beleuchten lediglich unterschiedliche Aspekte oder Ebenen des Problems.
Ergänzungen: Rational Beliefs Theory und autopoietisch-kuhnsche Sicht
Aus der AKS erhält man Einblicke, woher (kulturell, diskursiv, kommunikativ) die Marktteilnehmer ihre Überzeugungen beziehen und wie diese sich im sozialen Netzwerk stabilisieren oder plötzlich umschlagen. Die RBT erlaubt eine modulare Einbettung dieser Überzeugungen in ein quantitatives (z. B. finanz- oder volkswirtschaftliches) Modell, um deren Auswirkungen auf Preise und Märkte zu analysieren.
Die RBT und die AKS können sich ergänzen. Die eine Seite liefert die Mathematik und Simulation zu Heterogenität und Marktgleichgewichten, die andere Seite erklärt soziologisch und diskursiv, wie diese Heterogenität überhaupt zustande kommt, wie weit sie reicht und wann es zu Paradigmenwechseln kommt. Damit lassen sich sowohl die Ursprünge individueller Marktmodelle als auch deren aggregierte Auswirkungen besser verstehen und – in zukünftigen Arbeiten – vielleicht sogar präziser quantifizieren.
Ergänzungen: Behavioral Finance und autopoietisch-kuhnsche Sicht
Die BFT erklärt dagegen die psychologischen Mechanismen von Irrationalität und Verzerrungen. Sie sind eine valide Erklärung für einen Teil der Abweichungen von einem deterministisch stabilen Marktmodell. Die AKS erklärt, wie sich kollektive Interpretations- und Stabilitätsmuster formieren und weshalb deren plötzlicher Umbruch Teil eines systemischen Lernprozesses ist.
Ein gewisses Maß an vereinfachender „Voreingenommenheit“ – oder besser: kollektiver Interpretationsmuster[1] – ist systemisch unvermeidlich, um handlungsfähig zu bleiben. Das System kann sich trotz einer Vielfalt von Informationsquellen und individuellen Biases in gemeinsamen „Solitonen“ stabilisieren, es kann aber auch plötzlich brechen.
[1] In Bezug auf kollektive Interpretationsmuster stellt sich die Frage, inwieweit individuelle Akteure sich an solchen Mustern bei der eigenen Meinungsbildung orientieren und wie stark ihre Überzeugungen im Sinne der RBT deshalb voneinander abweichen. Es wäre außerdem interessant zu untersuchen, ob die Auswirkungen von Einschätzungsfehlern, die den Individuen unterlaufen, durch diese kollektiven Muster vermindert werden. Immerhin handelt es sich bei der Musterbildung um einen kollektiven Lernprozess.
Zusammenfassung und Fazit der Analyse
Das Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem zeigt die Grenzen klassischer Gleichgewichtsmodelle auf, indem es darlegt, dass selbst bei rational handelnden Individuen die aggregierte Marktnachfrage nahezu jede Form annehmen kann. Dies erschwert präzise Vorhersagen über Marktverhalten.
Im Gegensatz dazu bietet der autopoietisch-kuhnsche Ansatz eine tiefere Einsicht, indem er Märkte als selbstorganisierende, kommunikative Systeme betrachtet. Hierbei entstehen durch kontinuierliche Interaktionen stabile Deutungsmuster oder „Solitonen“, die zur notwendigen Reduktion von Komplexität beitragen. Diese Paradigmen ermöglichen es Marktteilnehmern, Informationen effizient zu verarbeiten, können jedoch bei auftretenden Anomalien abrupt wechseln, was zu plötzlichen Marktveränderungen führt.
Zusätzlich ergänzen neuere Modelle wie die Rational Beliefs Theory und die Behavioral Finance Theorie dieses Bild:
- Rational Beliefs Theory: Sie modelliert die Auswirkungen heterogener, aber rationaler Überzeugungen der Marktteilnehmer auf die Preisbildung, ohne jedoch die Ursprünge dieser Überzeugungen zu erklären.
- Behavioral Finance Theorie: Sie untersucht, wie psychologische Faktoren und kognitive Verzerrungen das Entscheidungsverhalten beeinflussen und somit zu Marktanomalien führen können.
Diese Ansätze widersprechen sich nicht, sondern beleuchten unterschiedliche Facetten des Marktverhaltens. Durch ihre Kombination entsteht ein umfassenderes Verständnis der komplexen Dynamiken in Wirtschaftssystemen. Während das Sonnenschein-Mantel-Debreu-Theorem die Herausforderungen der Aggregation individueller Präferenzen aufzeigt, liefert der autopoietisch-kuhnsche Ansatz Erklärungen für die Entstehung und den Wandel kollektiver Deutungsmuster. Die Rational Beliefs Theory und die Behavioral Finance Theorie tragen zusätzlich zur Erklärung individueller Entscheidungsprozesse bei.
Insgesamt ermöglichen diese komplementären Perspektiven ein tieferes Verständnis der Mechanismen, die hinter Marktstabilität und -instabilität stehen, und bieten wertvolle Ansätze für die Analyse und Prognose ökonomischer Phänomene.
